6. Juli 1944
GEO INFO | ||||
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Woltersdorf | ![]() | |||
Friedrichshagen | ![]() |
6.7.44. Ich warte mit Alberts Schwägerin vor dem Standesamt Woltersdorf. Wir sollen Trauzeugen sein. Carola will nachkommen. Nach kurzer Zeit kommt uns das junge Paar entgegen. Albert trägt die Uniform eines Fahnenjunker-••• S. 205 •••Unteroffiziers. Bei der Begrüßung äußert Ruth ihre Enttäuschung über meinen Zivilanzug. Sie hätte mich gern in Leutnantsuniform gesehen.

v.l.n.r.: Albert Bauer, früherer Schulkamerad und Kommilitone, Berufskollege und bester Freund des Autors; Ruth Bauer geb. Knop, ehemalige Freundin des Autors; Carola Schrödter verw. Selle geb. Rommeler, Mutter des Herausgebers; Herbert Schrödter, der Autor, Vater des Herausgebers
Die Formalitäten der standesamtlichen Trauung sind beendet. Ich setze meinen Namen als Trauzeuge unter die Urkunde. Nach der Rückkehr ins Domizil gibt es ein kaltes Frühstück, belegte Brötchen und Sekt. Da aber Carola jeden Augenblick mit der Straßenbahn kommen muss, trenne ich mich schweren Herzens von der Tafel und gehe zur Haltestelle. Hier habe ich nun schon die dritte Bahn abgewartet. Carola war nicht mitgekommen. Allmählich wird es kritisch. In fünfzehn Minuten wollen wir in die Kirche fahren. Ich stehe wie auf Kohlen. Da endlich kommt sie, buchstäblich in letzter Minute. Aufatmend begrüße ich sie und frage nach dem Grund der Verspätung. Sie gesteht mir etwas verlegen, dass die Aufregung „durchgeschlagen“ sei. Nun fahren wir in einer festlich geschmückten Straßenbahn zu der kleinen evangelischen Dorfkirche von Woltersdorf. Ich verfolge nun als Gast noch einmal dieselben Zeremonien, die ich vor wenigen Wochen als Bräutigam selbst erlebt habe. Der Pastor hält eine sehr schöne, eindringliche Rede über den Sinn der Ehe, die ich – mit leiser Schadenfreude – meinem Freund wohl gönne. Ich muss innerlich lächeln bei dem Gedanken, dass Albert sich dies alles sagen lassen und dazu schön den Mund halten muss. Beim Verlassen der Kirche wird die ganze Gesellschaft fotografiert. Nach der Hochzeitstafel setzen wir uns in den Garten und plaudern mit den Gästen, die nur aus dem engsten Familienkreis bestehen. Ruth fotografiert pausenlos, vor allem ihren jungen Gatten. Dann nimmt sie Carola unter den Arm und spaziert mit ihr auf dem Gartenweg auf und ab. Ich bin sehr froh über diese versöhnliche Geste, denn Carola hat im Verlauf der Gespräche manche kühle Bemerkung gemacht. Nach der Kaffeetafel ziehe ich mich mit Albert in die Veranda zurück. Wir haben eine Flasche besten französischen Wein entkorkt und vertiefen uns nach einem langen Trunk in ein herzliches Gespräch. Mir liegt vor allem daran, bei Albert Verständnis für Carolas Haltung zu gewinnen.
Wie doch das Leben schnell verrinnt! Ich sehe Albert und mich noch als Pennäler in der Schule. Später mühten wir uns als Studenten um Verständnis für die großen Zeitprobleme und die geistigen Welten. Dann beschritten wir beide mit mehr oder weniger Würde und Würdigkeit den ehrbaren Beruf eines Lehrers und Jugenderziehers. Nach wenigen Jahren zogen wir als Soldaten in den Krieg, und heute sitzen wir als soldatische Führer und junge Ehemänner zusammen. Inzwischen sind Staatsformen gekommen und gegangen, Weltanschauungen geboren und zusammengestürzt. Wir haben sie alle überlebt, unsere Gesinnung ist die alte geblieben. Der Krieg hat uns auseinandergerissen, an die fernsten Fronten geworfen, in Not und Todesgefahr gestürzt. Und heute sitzen wir zusammen, als sei nichts geschehen. Eine felsenfeste Freundschaft im Strudel des Weltgeschehens.
Da kommt Carola herein und erklärt kurz und bündig: „Ich fahre jetzt nach Hause!“ Ich erwidere ebenso ruhig und gelassen, dass ich noch etwas bleiben wolle. Albert ist verblüfft. „Mit welch souveräner Sicherheit Du die Situation beherrschst!“ ist das einzige, was er sagt. Carola hat sich entschlossen, doch noch zu bleiben.
Der ereignisreiche Tag neigt sich seinem Ende zu. Carola und ich rüsten zur Heimfahrt. Das junge Paar geht gleich auf Hochzeitsreise nach Oranienburg. Wir haben also bis Friedrichshagen denselben Weg. Wir brechen auf. Albert hebt ächzend seine beiden bleischweren Koffer an und wankt los. Ich biege mich vor Lachen über dieses Bild. Ruth zischt mich wütend an, ich solle ihm tragen helfen. Ich zögere, weil ich mich vor Carola nicht von ihr kommandieren lassen will, und weil ich nicht einsehe, warum ich nun auch noch unter diesem Unsinn leiden soll, mit zwei prall vollgepackten Riesenkoffern für zwei Wochen nach Oranienburg (am gegenüberliegenden, nördlichen Stadtrand von Berlin!) zu fahren. Albert behauptet, es wären fast nur Sachen von Ruth drin. Als ich ihm dann aber tragen helfen will, lässt es sein Stolz nicht zu. Aber schließlich schleppen wir doch gemeinsam die zentnerschwere Last. In Friedrichshagen steigen Carola und ich aus. Als wir uns durch das Zugfenster die Hände zum Abschied gereicht hatten, fasst Ruth meine Hand ein zweites Mal und drückt sie schnell und impulsiv.
Während wir am Bahnhof unten auf die Straßenbahn warten, flackert Carolas Missstimmung wieder auf. In dem folgenden Wortwechsel mache ich eine Bemerkung, die Carola tief beleidigt. Der Streit setzt sich sogar noch fort, als wir zuhause schon in den Ehebetten meiner Eltern lagen. (Sie waren zu ••• S. 206 •••Verwandten und Bekannten nach Schlesien und dem Generalgouvernement gefahren.) Carola verlangt erneut Abbruch aller Beziehungen zu Albert und Ruth. Das will ich aber nicht, weil es unsinnig und unnötig ist. Ich will den Freund nicht wegen einer augenblicklichen und unbegründeten Eifersucht fallen lassen. Der Streit ist hart. Passten wir vielleicht doch nicht zueinander? War der Schritt in die Ehe übereilt? Aber unter all meinen weiblichen Bekannten finde ich keine, die ich lieber gehabt hätte als Carola. Die Menschen haben alle gute und schlechte Eigenschaften. Es gibt keinen Menschen, der lückenlos zu einem anderen passt. Es gibt keinen Ehepartner, der den anderen restlos ausfüllt. Selbst gute Ehepartner sind nicht immer in allen Fragen einer Meinung, und nicht alle Eigenschaften ergänzen sich harmonisch. Es gibt also auch in guten Ehen Differenzen. Das ist wohl natürlich. Ohne Spannung kein Glühen, ohne Reibung keine Wärme. Und wo die Menschen sich selbst völlig genügen würden, hätten sie wohl auch den Herrgott bald vergessen. So aber brauchen sie Ihn bei ihren Schwierigkeiten, als Dritten. Ehe zu dritt. Das ist die Lösung. Der Dritte aber muss der Herrgott sein.
Wir stritten noch lange in dieser Nacht. Es war ein unerbittliches Ringen. Aber so, wie ich Carola am Bahnhof ungewollt durch eine Bemerkung verletzt hatte, finde ich jetzt intuitiv das versöhnende Wort. Da schlingt sie mit einem tiefen Seufzer die Arme um mich, und alles ist wieder gut.
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