1. Februar 1945

Aus Westmärker Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Hilfe

Kalendernavigation ab 1944 -04-16.jpg

Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Inhaltsverzeichnis

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Originalmanuskript

English
GEO INFO
OKW-Lagekarte 1945/Februar Karte — map

Ich bin in den Unterstand gestiegen, den ich mit dem Ari-Beobachter teile. Ich habe genau so wenig Schlaf bekommen wie die Männer und bin hundemüde. Die Artilleristen sehen uns bestimmt mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Bisher lagen sie hinter der Front allein in ihrem Bunker. Nun aber sind sie in die HKL geraten und müssen ihren Bunker noch mit uns teilen. Wir sind 5 Mann hier drinnen. Der Artillerieleutnant mit einem Funker und ich mit zwei Meldern.

Ich habe zwei Stunden geschlafen und setze mich nun an den kleinen Klapptisch, um zu frühstücken. Seit undenklichen Zeiten habe ich wieder einmal Weißbrot und gute Butter bekommen. Diese Kostbar¬keiten packe ich nun auf den Tisch und beginne, das Brot zu bestreichen. Mit Behagen beiße ich in die erste Schnitte.

Da setzt draußen in der Ferne ein dumpfes Wummern ein. Es sind die Abschüsse einer Rollsalve[1]. Die Einschläge liegen aber weit weg. Da mischt sich der harte Schlag einer Pak ein. Krännng! Dieser Einschlag liegt nahe. Der Artillerist hat schon sein Glas an den Augen, und der Funker geht auf Empfang. „Sie greifen an!“ ruft der Artillerie Leutnant plötzlich. Es war zu erwarten. Iwan will seinen gestern erreichten Einbruch erweitern.

Ich hatte gerade zwei Bissen gegessen. Wütend packe ich das Frühstück weg. Vielleicht kann ich es später in Ruhe fortsetzen. Ich flitze im Schutz der Scheune zu den Stellungen meines Zuges. Die Wachen vorn im Graben sind auf Posten. Im Gelände vor uns ist alles ruhig. Der Angriff kommt aus der Einbruchstelle und richtet sich gegen den rechten Nachbarabschnitt. Nur einzelne Granaten explodieren in der Nähe unseres Hofes. Sie gehören zu dem Feuervorhang, der uns von dem Angriffsraum abriegeln soll.

Kraachch – ein Einschlag liegt mitten im Hof. Splitter surren. Bruuch –schon wieder einer. Jetzt liegt auch unser Hof unter Beschuss. Offenbar dehnt der Russe seinen Angriffsraum aus. Ich kann es mir nicht verkneifen, den Männern die Richtigkeit meines Schanzbefehls zu beweisen. Jetzt sehen sie es natürlich ein.

Der Feldwebel, den ich als Gruppenführer nach Sili geschickt hatte, kommt mit einer völlig nichtssagenden Meldung zurück. Ich mache ihm klar, dass der Gruppenführer bei seiner Gruppe zu bleiben hat und notfalls einen Melder schickt. Ich überlege mir, ob ich diesen Feigling durch einen besseren Mann ersetze, denn dieser Kerl steckt womöglich die andern noch an. Jetzt wurstelt er auf dem Hof herum.

1.2.45. Drei Stunden nach dem Gruppenführer kommt der stellvertretende Gruppenführer mit einem Gefreiten aus Sili herauf. Sie holen Munition und machen gleich wieder kehrt. Der Gefreite ist ein prächtiger Kerl. Erst gestern hat er durch einen wahrhaft tapferen Einsatz der ganzen Gruppe das Leben gerettet. Deshalb habe ich ihm eben, bevor sie wieder nach Sili zurückgingen, in unserem Bunker vor allen Anwesenden meine Anerkennung ausgesprochen und ihn mit denselben Worten belobigt, die Oberst Mann vorgestern zu mir gesprochen hat: ••• S. 256 •••„Seien Sie gewiss, dass das nicht vergessen wird!“ Zehn Kämpfer von dieser Sorte wiegen eine ganze Kompanie auf. Aber es ist damit, wie überall im Leben: Das Kostbare ist selten. Beim nächstmöglichen Termin für Auszeichnungen werde ich ihn an erster Stelle einreichen.

Aber auch ihn musste ich daran erinnern, dass auch der stellvertretende Gruppenführer bei der Gruppe bleiben muss. Es ist unmöglich, die Gruppe gerade in einer brenzligen Situation ohne Führer zu lassen. Sie sind durch den Beschuss schon wieder nervös geworden. Dies ist die schlechteste Kompanie, die ich jemals geführt habe, von einigen wenigen tüchtigen Soldaten abgesehen.

Rechts ist es stiller geworden. Der sowjetische Vorstoß ist gestoppt worden, allerdings unter Preisgabe eines schmalen Geländestreifens.

Da ruft mich der Posten nach vorn: „Herr Leutnant, da laufen welche nach Sili!“ Ich stelle mich neben dem Posten und blicke durchs Glas. Ja, da kommen etliche Gestalten von rechts auf Sili zu. 6 – 8 – 10 Mann. Sie kommen aus der Richtung der Einbruchstelle. Sind es Deutsche, die vor dem russischen Vorstoß ausweichen wollen, oder sind es Russen, die den Einbruch nach der Seite erweitern wollen? Sie laufen geduckt und verschwinden immer wieder im Gebüsch oder den Vertiefungen des Bachgrundes, dem sie folgen. Jetzt aber erkenne ich sie. Es sind Russen! Hundert Meter sind sie noch von Sili entfernt. Warum schießen die denn nicht von dort!? Ich greife ein: „Linkes MG – fertigmachen. Entfernung 600 – Feuer!“ Das MG rasselt los. Ich kann die Iwans zwar nicht recht fassen, weil sie durch Gebüsch und Boden Vertiefungen gedeckt sind, aber ich kann die Gruppe in Sili aufmerksam machen. Immer wieder jagen die Feuerstöße hinüber. Von den Russen sehe ich manchmal nur die Köpfe. Verdammt nochmal, merken die in Sili denn nichts!? Schläft denn der Posten, oder haben sie gar keinen aufgestellt? Hier rechts hat der Russe doch angegriffen, da beobachtet man doch in dieser Richtung, zumal er ihnen in der Flanke sitzt!

Noch hundert Meter, dann ist der Russe am Haus. Will meine Gruppe sie vielleicht erst näher heranlassen? Jetzt sind die Iwans verschwunden. Der Bachgrund und das Gebüsch verdecken sie. Mein MG-Schütze stopft. Gespannt blicken wir hinüber. Es fällt kein einziger Schuss da unten. Und plötzlich kommt eine Reihe von Männern aus dem Haus. Sie sind unbewaffnet und gehen in Reihe hintereinander langsam auf die Front zu. 9 Mann. Meine Gruppe! Sili ist gefallen! Meine ganze Gruppe überrumpelt und gefangen, und wir stehen hier und können nicht helfen.

Es ist immer wieder das alte Lied mit der Nachlässigkeit unserer Posten. Da gehen jetzt neun Mann in Gefangenschaft, weil ein einziger Posten seine Pflicht nicht getan hat. Oder weil alle zu träge waren. Es ist doch richtig, wenn Wachvergehen unnachsichtig scharf bestraft werden.

Und der Russe hat uns wieder einmal eine seiner starken Seiten vor exerziert: Die Überrumpelung.

Auf meinen drei Gehöften, die das Rückgrat der 2. Linie bilden, liegt wüstes Feuer. Schon seit Stunden hauen Pak und schwere Granatwerfer in die Gehöfte. Von Zeit zu Zeit machen sie eine Feuerpause, um dann erneut mit Wucht einzusetzen. Ich habe mich in den Unterstand zurückgezogen und lausche dem Funkverkehr des Ari-Beobachters. Kraaach! – ein Blitz – ein Schüttern – der Bunker hüpft. Eine Granate war dicht neben dem Eingang eingeschlagen. Der Funker zieht seine Antenne ein. Sie ist unbeschädigt. Zögernd steckt er sie dann wieder durch den Türspalt, denn er braucht sie für sein schweres Berta-Gerät[2].

Jedesmal, wenn das Feuer etwas nachlässt, steige ich aus dem Bunker und laufe zu meinen MG-Stellungen, spreche mit den Posten und beobachte die beiden anderen Gehöfte. Jetzt liegt gerade starkes Feuer auf dem rechten Hof. Grauschwarze Rauchfahnen steigen auf, wenn die schweren Werfergranaten krepieren. Es sind 12-cm-Kaliber. Dazwischen gellen die harten Abschüsse der sowjetischen Pak. Ich schätze sechs Geschütze.

Ein Melder kommt von rechts an gesaust. Er bringt böse Nachricht. Ein Volltreffer hat eines meiner MG-Nester vernichtet und die gesamte Bedienung getötet. Darunter ist auch der lange Danziger. Ich hatte ihn absichtlich hier in der 2. Linie gelassen, um diesen baumlangen Kerl nicht zu sehr zu gefährden. Nun hat es ihn doch erwischt. Es ist schon so: Wir können unser und anderer Schicksal nicht bestimmen. Wir stehen in Gottes Hand. Wen es treffen soll, den trifft es doch.

Im Laufe des Nachmittags erleidet meine Kompanie noch weitere Verluste. Es sind ••• S. 257 •••keine lebensgefährlichen Verwundungen dabei, aber die Ausfälle verringern meine Mannschaftsstärke.

Der sowjetische Vorstoß im rechten Abschnitt soll im Gegenangriff zurückgeworfen werden. Eben ist eine Pionierkompanie zum Angriff angetreten. Sie wird von Sturmgeschützen unterstützt. Ich sehe sie in geöffneter Ordnung über die Schneefläche vorgehen. Aber kaum haben auch die Sturmgeschütze ihre Deckungen verlassen und sind auf die freie Fläche hinausgerollt, da fasst sie ein furchtbares Stahlgewitter[3]. Die Russen setzen eine 15-cm-Batterie ein, die bisher noch nicht aufgetaucht war. Hohe, schwarze Rauchfontänen schießen steil in die Luft, und der Donner der Explosionen übertönt zeitweilig die rasselnden Kettengeräusche der angreifenden Sturmgeschütze. Die Kompanie wird furchtbar zusammengeschossen. Der Angriff bleibt bald stecken. Jetzt erhalte auch ich den Befehl zum Angriff, aber ich lehne ab. Erstens ist mir das Angriffsziel ohne jede Einweisung völlig unklar. Zweitens kann ich meine Kompanie in der nötigen Geschwindigkeit gar nicht sammeln. Drittens ist sie durch die bisherigen Ausfälle schon so dezimiert, dass sie gar nicht stark genug ist. Viertens würde sie jetzt genauso zusammengeschossen wie die Pionierkompanie. Mit diesen zusammengeschmolzenen Gruppen, die kaum noch ihre eigenen Stellungen halten können, kann man bei helllichtem Tag unter solchen Beschuss über eine freie Schneefläche keinen erfolgversprechenden Angriff führen. Was ich nicht gesagt und für mich behalten habe, ist meine Besorgnis: Wenn die Pionierkompanie das nicht schafft, dann gelingt es meinem Haufen erst recht nicht. Die Toten und Verwundeten wären vergeblich gefallen. Man hat meine Argumente offenbar akzeptiert, denn der Angriff wird abgeblasen, und man lässt auch mich erstaunlicherweise ungeschoren, trotz dieser Beinahe-Befehlsverweigerung.

Ich werde zum Bataillonsführer zu einer Besprechung gerufen. Es geht um einen neuen Einsatz. Aber zunächst empfängt er mich mit einem sanften Vorwurf, weil ich die zur Verstärkung des vorderen Grabens vorgesehene Gruppe nicht abgestellt hatte. Zuerst hatte ich es absichtlich nicht getan, weil ich die Männer nicht nachts durch ein unbekanntes Gelände nach vorn schicken wollte. Diese Anfänger wären doch glatt durch die ohnehin dünnbesetzte Linie zu den Iwans gelaufen. Außerdem war das Gelände, wie der Bataillonsführer zugab, nicht ganz feindfrei. Und dann habe ich es später allerdings vergessen. Mit seiner ruhigen Stimme sagt mir der Hauptmann dann: „Wenn ich einem Offizier einen Befehl gebe, muss ich die Gewissheit haben, dass er auch ausgeführt wird.“ Damit hat er völlig recht, und ich bin auch ganz kleinlaut und etwas beschämt.

Inzwischen sind auch die anderen Offiziere eingetroffen, und die Einsatzbesprechung beginnt. Es geht um die Rückeroberung von Sili. Dies soll die erste Etappe einer größeren Operation sein. Der Hauptmann berichtet: Ein neues Bataillon, das in Kürze eintreffen wird, soll von unseren Stellungen aus einen nochmaligen Gegenangriff unternehmen, um den russischen Einbruch zu bereinigen. Um diesem Angriff eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen, soll Sili zurückerobert werden, und zwar soll ich das machen. Zur Verstärkung meiner zusammengeschmolzenen Kompanie werden mir noch zwölf Pioniere unterstellt. Außerdem sollen drei Sturmgeschütze meinen Angriff unterstützen.

Ich bin wieder auf meinem Gehöft und beginne mit den Angriffsvorbereitungen. Ich bespreche mit den Zug- und Gruppenführen den Angriffsplan, Gliederung, Vorgehen usw. Es ist Nachmittag. Der Angriff soll mit Einbruch der Dämmerung beginnen. Auf unserem Gehöft liegt wieder starkes Störungsfeuer. Die Pioniere kommen schon. Es scheinen ordentliche Burschen zu sein. Auch ihnen erkläre ich nochmals meinen Angriffsplan. Inzwischen brummen auch die Sturmgeschütze heran. Sofort verstärkt sich das sowjetische Feuer auf unseren Hof. Man kann schon nicht mehr über den Hof laufen, ohne vorher in die Luft und zum Iwan hinüber zu lauschen, ob nicht gerade wieder eine Lage herangerauscht kommt. Die Sturmgeschütze sind in Deckung gefahren. Die rote Pak hat ihr Feuer nach rechts verlegt, aber auf unser Gehöft rauschen pausenlos die 12-cm-Werfergranaten herab. Vor dieser Steilfeuerwaffe ist man auch hinter den Gebäuden nicht sicher. Die Sturmgeschütze stehen dicht an den Hauswänden. Der Hof gleicht einem Bienenhaus. Die Besatzungen der Sturmgeschütze hantieren an ihren Fahrzeugen herum, meine Infanteristen und die Pioniere machen sich bereit. Der Ari-Beobachter sucht sich einen besseren Standort. Das Hin- und Herlaufen lässt sich gar nicht vermeiden. Dazwischen fetzen immer wieder die Einschläge der feind••• S. 258 •••lichen Mörser. Bränng – der Artillerie-Leutnant verschränkt krampfhaft seine Beine, fällt mit der Schulter gegen die Hauswand und rutscht dann langsam zu Boden. Granatsplitter im Fuß. Er hatte bei dem Sturmgeschütz gestanden und mit dem Geschützführer gesprochen. Zänng – ein hartes metallisches Krachen. Dicht neben dem Sturmgeschütz war eine Granate krepiert. Der Mann, der auf dem Panzer arbeitete, stürzt getroffen herunter. So geht das schon während der Vorbereitungen.

Ich bin voller Spannung, mit Nerven und Gedanken auf den bevorstehenden Angriff konzentriert. Auch meine Kompanie hat schon wieder einige Ausfälle. Die Bolschewiki schießen uns zusammen, bevor der Angriff beginnt. Der Beschuss hört gar nicht auf. Was müssen die für Munitionsmengen da drüben liegen haben! Wenn es doch endlich dunkel würde! Noch eine ganze Stunde vergeht. Eine Stunde voller Unruhe und Nervenanspannung. Dann endlich bricht die Dämmerung herein. Ich lasse die Kompanie fertigmachen. Es sind noch 17 Mann, dazu die 12 Pioniere. Das sind mit mir zusammen genau 30 Mann, ein Viertel der normalen Kompaniestärke!

Der feige Luftwaffen-Feldwebel ist wieder weg. Er hatte die Gruppe in Sili schon eigenmächtig verlassen und war auf diese Weise der Gefangenschaft entgangen. Dann war er hier auf dem Gehöft herumgelungert. Bis vor wenigen Minuten habe ich ihn noch gesehen. Jetzt, wo es losgehen soll, ist er plötzlich verschwunden. Ich lasse ihn suchen, aber er ist unauffindbar, und ich habe jetzt auch keine Zeit mehr. Der Angriff muss beginnen.

Der Angriff auf Sili beginnt. Die Sturmgeschütze haben das Gehöft schon verlassen und stehen nun in einiger Entfernung auf freiem Feld. Ich springe zu dem Führungspanzer, um mit dem Geschützführer noch die letzten Einzelheiten zu besprechen. Er guckt oben auf seiner Luke, während ich unten neben der Kette stehe. Wir müssen schreien, um den Lärm der laufenden Motoren und der Granateinschläge zu übertönen. Leider wollen die Sturmgeschütze den Angriff nicht mitfahren. Sie fürchten die russische Pak und die 15-cm-Batterie. Sie wollen die wenigen kostbaren Panzer, die ihre Sturmgeschütz-Abteilung noch hat, nicht übermäßig gefährden. Deshalb wollen sie mich mit ihrem Feuer von hier oben unterstützen. Der Beschuss aus sechshundert Metern Entfernung ist natürlich genauso wirksam, aber die demoralisieren Bewirkung der anrollenden Panzer auf die Russen geht mir verloren. Nun, es hilft nichts. Wir verabreden noch einige Leuchtzeichen, und dann springe ich ins Gehöft zurück. Ich will den Angriff vom linken Gehöft aus ansetzen.

In einer kleinen Feuerpause des feindlichen Beschusses lasse ich die Kompanie in weit auseinandergezogenen Gruppen zum linken Gehöft hinübergehen. Inzwischen haben die Sturmgeschütze ihre Feuerstellung bezogen. Sie stehen in der Nähe meines Kompaniegefechtsstandes, oben am Rand des flachen Talhanges. Im linken Hof angekommen, lasse ich den Sanitäter und einen Gehilfen in der Sauna zurück. Hier soll das Verwundeten-Nest sein. Dann durchschreite ich den Obstgarten hinter dem Gehöft, lasse die Männer ausschwärmen und gehe auf Sili los. Das Gelände vor uns fällt leicht zu einer flachen Mulde ab, in der Sili liegt. Jetzt brüllen die Sturmgeschütze auf. Bruch – bruch – bruch. Die Einschläge liegen vor und neben dem Haus. Ich feuere meine Männer an. Wir müssen über eine offene Fläche. Der Schnee ist fast knietief. Wir waten vorwärts. Die nächste Salve unserer Sturmgeschütze kracht. Sie liegt gut. Ein Schuss sitzt mitten im Hof. Wir stapfen mühsam aber zügig durch den Schnee. Die Pioniere sind tatsächlich prächtige Kerle. Sie sind tüchtig dabei. Einige von ihnen gehen vor mir. Sogar einige meiner Männer mit ihrem Zugführer sind mir voraus. Trotz der abendlichen Dämmerung sind sie deutlich als dunkle Gestalten auf dem hellen Schnee zu sehen. Wir haben schon mehr als die Hälfte des Weges hinter uns und stehen knapp 300 m vor Sili, das ebenfalls klar zu sehen ist. Die Sturmgeschütze haben ihr Feuer eingestellt. Noch knapp 200 m. Da blitzt plötzlich an der rechten Hausecke von Sili ein dünner roter Strich auf und gleichzeitig schallt ••• S. 259 •••das Knattern eines MG-Feuerstoßes herüber. Patsch – in derselben Sekunde fühle ich einen dumpfen Schlag gegen meinen linken Oberschenkel, als wenn ein Stein dagegen geflogen wäre. Der Schlag war nicht sehr stark. Ich fühle auch keinen Schmerz. Vielleicht habe ich mich geirrt? Also weiter! Ich mache noch ein paar Schritte, aber dann merke ich, wie die Unterhose warm und nass an meinem Bein klebt. Also doch getroffen! Gleich von der ersten Garbe und als einziger. Ich werfe mich in den Schnee. Soll ich weitergehen? Schmerzen habe ich keine, nur das Blut rinnt am Oberschenkel herunter. Das Bein wird taub, etwas gefühllos. Ich liege noch einen Augenblick, etwas unschlüssig und auf eine Reaktion der Verwundung warten. Aber dann erkenne ich, dass ich mit dem Bein nicht weiter laufen kann. Ich rufe den Feldwebel an, der 15 m vor mir im Schnee kniet (Freitag oder Harmann oder?): „Feldwebel X, ich bin verwundet, übernehmen sie die Kompanie und führen Sie den Angriff weiter!“ Dann ist schon mein Sanitätsunteroffizier bei mir. Ich glaube, der Feldwebel hat gar keine Antwort gegeben. Oder war ich schon geistig abwesend?

Vierte Verwundung

Meine vierte Verwundung. Der Sani packt mich unter den Arm und führt mich zurück. Ich hinke durch den Schnee. Der Wundschock löst sich. Die Schmerzen beginnen. Wie erreichen das Verwundetennest in der Sauna, und ich sinke auf das Strohlager. Mit Hilfe des Sani schnalle ich mein Koppel ab und befreie mich von der dicken Winterbekleidung. Dann legt er die Wunde bloß und beguckt sie sich.

Dieser Sanitätsunteroffizier ist ein dunkelblonde Rheinländer. Er ist etliche Jahre älter als ich, verheiratet und hat zwei Kinder. Schon in Jurmalciems lag er mit mir im Kompaniegefechtsstand, hat mir manchen vernünftigen Rat gegeben und mich, wenn ich über etwas wütend war, in seiner ruhigen Art sehr besonnen und geschickt beruhigt. Ich habe seinen klugen Rat gern befolgt.

Nun begutachtet er mit dem zweiten Sani die Wunde und sagt dann: „Herr Leutnant, ich werde Sie gar nicht erst verbinden, sondern gleich zum Bataillon bringen. Dort kann dann gleich ein ordentlicher Verband angelegt werden.“ Dann packen mich die beiden in einen Akja. Das ist ein spindelförmiger flacher Trog, der wie ein Schlitten benutzt wird. Er wird mit einer Leine gezogen und gleitet mit seinem flachen glatten Boden wie ein Schlitten über den Schnee. Für den Verwundetentransport im verschneiten Gelände ist er ein ideales Fahrzeug. Sie sind in Finnland und Lappland gebräuchlich.

Ich liege auf dem Rücken im Akja und blicke zum nächtlichen Himmel empor, während die beiden Sanis den Akja durch den Schnee ziehen. Im Bogen umgehen Sie die Gehöfte, die immer noch unter Beschuss liegen. Es ist plötzlich wärmer geworden, und der leichte Schneefall ist in einem feinen Sprühregen übergegangen, der mir feucht ins Gesicht rieselt. Der Schnee wird pappig, und die beiden ziehen schwer und mühsam. Kurz vor dem Truppenverbandplatz bittet mich der Sanitätsunteroffizier, mit ihrer beiden Hilfe versuchsweise zu gehen. Gestützt auf beide Sanis humpele ich zum Sanitätsbunker. Der Sanitätsfeldwebel nimmt sich gleich meiner an. Er legt die Wunde frei, beguckt und betastet den blutverschmierten Oberschenkel und ruf dann erfreut: „Herr Leutnant, das ist ja ein idealer Heimatschuss! Glatter Oberschenkeldurchschuss und nur Weichteilverletzungen!“Er strahlt über das ganze Gesicht, als wenn er den Heimatschuss bekommen hätte. Dann beginnt er, mir einen Verband anzulegen und ist dabei munter und fröhlich. Das ist ein guter Sanitäter, der – absichtlich oder unbewusst – mit seinem fröhlichen Gemüt die deprimierten Verwundeten etwas aufzumuntern versteht.

Nun tragen sie mich auf einen Pferdeschlitten, der draußen bereit steht. Da liegen schon drei Verwundete drauf. Da er jetzt voll ist, kann er abfahren. Ich drücke meinem Sani die Hand. Die Pferde ziehen an. Der Weg führt erst den Hang hinauf, aber die Pferde müssen ihn im Trab nehmen, denn er liegt unter Pak-Beschuss. Bapp-bruch-bapp-bruch. Abschüsse und Einschläge erfolgen fast gleichzeitig. Ein widerlich harter und krächzender Abschuss, und dann fetzen die rasanten Granaten mit giftigem Zischen heran. Jetzt ist die Lage vorbei, der Fahrer knallt mit der Peitsche, und die Pferde jagen im Galopp davon. Kräck-bruch, kräck-bruch. Die Einschläge der nächsten Lage liegen schon hinter uns. Der Schlitten hat nun die Hochfläche erreicht, biegt nach rechts ab und gleitet nun auf einem breiten glatten Weg gleichmäßig dahin.

Da heult es plötzlich auf. Jaulend fauchen sie heran und krepieren rechts vor uns mit infernalischem Krachen. Katjuschas! Stalinorgeln! das gefürchtete sowjetische Salvengeschütz. Zwölf berstende Phosphorraketen sprühen ••• S. 260 •••ihren Funkenregen wie eine rote, feurige Fontäne in den dunklen Himmel. Der Weg liegt ständig unter Beschuss. Es ist ja die Nachschubstraße für unsere kämpfende Front. Der Fahrer feuert seine Pferde an. Ihre klappernden Hufe trommeln dumpf auf den Schnee, und der Schlitten saust zischend dahin. Eine neue Lage, rechts und links der Straße, vor und hinter uns. In Sekundenschnelle schießen die glühenden Fontänen in die Luft, herrliche Feuerbüschel, feurigen Blumensträußen gleich. Aber tödlich und von brennender Qual, wenn sie treffen. Unser Schlitten jagt mitten hindurch. Weiter, schneller, das ist unser einziger Gedanke. Es ist ein scheußliches Gefühl, so hilflos dazuliegen und diesem Granatenhagel ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Man kann sich nur flach auf den Schlitten pressen.

Wir verlassen die Hauptstraße und biegen nach links in einen kleinen Landweg ein, der auf ein Gehöft führt. Hier ist der Hauptverbandplatz. Als der Schlitten vor dem Hause hält, kommen einige Männer aus der Tür, um uns abzuladen. Im Haus legen sie mich auf eine Pritsche. Es ist ziemlich dunkel hier. Einer kommt auf mich zu und beugt sich zu mir herunter. Da stutzt er plötzlich, und ein Ausruf der Überraschung kommt aus seinem Mund: „Herr Leutnant, sie sind verwundet?“ Auch ich habe ihn sofort erkannt: Es ist mein desertierter Luftwaffen-Feldwebel! Ich frage ihn sofort, wo er bei Angriffs¬beginn geblieben sei. Er flunkert wehleidig: „Herr Leutnant, kurz vor Angriffsbeginn war eine Granate so dicht neben mir krepiert, dass es mir einen furchtbaren Schlag in der Lunge gab. Ich dachte, ich hätte einen Lungenriss, und da bin ich hierher gefahren, um mich untersuchen zu lassen.“ Ich schwanke zwischen Wut und Verachtung für diesen Feigling. Ich frage noch: „Warum haben sie sich nicht abgemeldet? Sie waren doch in meiner Nähe, und viele Kameraden auch?“ Er weiß keine Antwort. Ich sage weiter: „Wenn Sie eine Lungenverletzung gehabt hätten wären sie nicht so einfach bis hier herauf gekommen. Was sagt denn der Arzt?“ – „Nichts.“ Ich bin sicher, dass er gar nicht zum Arzt gegangen ist. Ich will zum Arzt, um ihn zu veranlassen, den Kerl gleich wieder nach vorn zu schicken. Aber der Doktor ist so mit Arbeit überlastet, dass ich gar nicht an ihn heran komme, zumal ich ja nicht selbst gehen kann. Da ich schon versorgt bin, warte ich auf meiner Pritsche auf den Abtransport. Da kommt der Kerl wieder angeschlichen und gibt mir einen Riegel Schokolade. Ich nehme ihn und stecke ihn gleich in den Mund, denn ich habe seit gestern früh nichts gegessen. Gleich darauf ärgere ich mich maßlos, dass ich von diesem Feigling etwas angenommen habe. Aber ich bin schlapp und müde und energielos.


— nächstes Datum — next date →

Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Originalmanuskript

  1. zusammengefasstes Feuer von vielen Geschützen, die gemeinsam ein bestimmtes Ziel in schneller Schussfolge beschießen, so dass die einzelnen Abschüsse und Einschläge nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, sondern nur noch ein einziges dumpfes Rollen zu hören ist (Slovopedia); z. B. wie hier als Feuerschlag zu Beginn eines längeren Wirkungsschießens (GenWiki).
  2. wohl der Tornisterempfänger Berta (Torn.E.b.) und nicht das Tornisterfunkgerät Torn.Fu.b1
  3. Der Ausdruck zitiert den Titel des Buches „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger.