24. Januar 1945
GEO & MIL INFO | ||||
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Ķesteri[1] | ![]() | |||
Sanderi[2] | ![]() | |||
Dobeli | ![]() | |||
dem G.R. 187 (Kdr: Oberst Mann) der 87. I.D.WP unterstellt |
Da die Zeit aber drängt, habe ich schon einen Sonderauftrag erhalten. Meine Kompanie soll auf schnellstem Wege an die gefährdete Frontstelle geworfen werden. Mein Tross soll mit dem restlichen Bataillon nachgeführt werden. Ich sammle also meine Kampfgruppen, und wir klettern auf die zwei Lkws, die inzwischen vorgefahren waren. Als die Motoren anspringen, dämmert schon der neue Tag herauf. Es geht nach Ķesteri[1]. Der Fahrer kennt den Weg. Nach einer knappen Stunde halten wir in einer Tannenschonung. Es ist schon hell, und wir er••• S. 237 •••kennen links und rechts des Weges einige Bunker und Feuerstellungen schwerer 15-cm-Werfer. Während wir auf den Einweiser warten, klettern wir in die Bunker hinunter. Draußen ist es bitterkalt. Außerdem haben wir die ganze Nacht und den vorangegangenen Tag nicht geschlafen und sind müde und durchgefroren. Aber schon bald holt uns der Einweiser, ein Offizier, schon heraus. Nach kurzer Fahrt verlassen wir den Wald und fahren in offenes Gelände hinaus. An einer Straßenkreuzung liegt ein einsames Haus mitten in der Ebene. Da steht schon wieder ein Offizier und winkt uns nach links auf eine Straße, die nach kurzer Zeit schon wieder in den Wald hineinführt. Er drängt zur Eile. Kaum sind wir zwischen den grünen Mauern des Waldes verschwunden, da krachen die ersten Granaten vor uns in den Boden. Die Lkws stoppen. Es sind jetzt sechs Wagen, denn die anderen Kompanien und der Bataillonsstab sind inzwischen ebenfalls zu uns gestoßen. Wir steigen ab, nehmen unser Gerät auf und pirschen uns langsam nach vorn. An der Stelle, wo der Weg aus dem Wald heraustritt, stehen einige Ruinen. Es sind die ersten Häuser von Ķesteri. Wir sind dicht am Ziel. Ich verteile meine Kompanie links und rechts im Wald und lasse sie hinlegen. Einige Gruppen legen sich in die Ruinen. Immer noch heulen einzelne Granaten heran und krachen mit dumpfer Explosion in den Wald oder zwischen die Ruinen. Wir müssen abwarten. Der Russe hat entweder unsere Kolonne herankommen sehen oder er weiß, dass hier die Nachschubstraße verläuft. Jedenfalls liegt der Raum um uns unter lebhaftem Störungsfeuer.
Dann kommt der Befehl für meine Kompanie. Ich soll auf der Straße bis zum nächsten Dorf vorgehen, das etwa einen Kilometer entfernt ist. Ich sehe mir das Vorgelände an. Vor mir liegt das kleine Kirchdorf Kesteri. Die Straße führt rechts im Bogen am Dorf vorbei und zweigt in Höhe der Kirche rechtwinklig nach Süden[3] ab und verschwindet im Wald. Dahin muss ich, denn hinter diesem Wald liegt mein Ziel. Ich brauche also nur dieser Straße zu folgen. Ich lasse die Kompanie sammeln und gebe, mich an die Spitze setzend, das Zeichen zum Abmarsch. Nach einiger Zeit drehe ich mich um und sehe meine Kompanie in endloser Reihe hinter mir herkommen, während die letzten Gruppen noch in dichten Haufen zwischen den Ruinen und auf der Straße stehen. Mit der Spitze biege ich aber schon an der Wegzweigung ab und verschwinde wieder im schützenden Wald. Zu beiden Seiten des Weges stehen Warnschilder mit Totenköpfen: „Achtung Minen!“ Links im Straßengraben liegt ein abgeschossener Stalinpanzer. Es ist die neueste sowjetische Konstruktion. Ein schwerer Panzer, schnittig und formschön.
Ich erreiche das Ende des Waldes. Vierhundert Meter vor mir im offenen Gelände steht eine Gruppe von Hausruinen, hinter denen zwei deutsche Sturmgeschütze auf der Lauer liegen. Die Ruinen sind die Reste des Dörfchens Sanderi[2]. Wir sind am Ziel. Gleich links, hart am Waldrand, fällt das Gelände zu einer engen, steilwandigen Mulde ab, etwa zehn Meter tief. Auf ihrem Grund stehen einige Baracken und Bunker, der Bataillonsgefechtsstand. Hier hinunter führe ich meine Kompanie. Mein Kommen löst große Freude aus. Mit einem Aufatmen der Erleichterung teilt man mir mit, dass ich gleich heute nacht eine verloren gegangene Stellung zurückerobern soll. Ich fange gleich mit den Vorbereitungen an, indem ich die Kompanie wieder nach oben führe, wo sich die Männer, weit auseinandergezogen, über die freie Fläche verteilt in den Schnee legen. Es wird die zweite Nacht ohne Schlaf, nachdem ich nun schon eine Nacht und zwei Tage hintereinander nicht geschlafen habe. Und nun noch ein Nachtangriff in unbekanntem Gelände mit einer Kompanie, die erstmalig in einen Kampf geht. Im Grunde genommen ist es Irrsinn, aber was soll man machen!?

Gegen Abend trifft der Regimentskommandeur mit einigen Offizieren ein. Muss ja eine wichtige Sache sein. Während er mit dem Bataillonskommandeur die Lage bespricht, gehe ich mit einem Hauptmann hinaus, um mich einweisen zu lassen. Wir stehen am vorderen Rand der Mulde. Es beginnt schon zu dunkeln, nur die weiße Schneedecke erhellt die Landschaft soweit, dass man die Konturen im Gelände noch undeutlich erkennen kann. Der Hauptmann streckt den Arm aus: „Da vorn, 300 m vor uns, verläuft unsere Stellung. Noch weiter vorn, in etwa 1 km Entfernung, sehen Sie ein Wäldchen liegen. Hinter diesem Wäldchen liegt ein Gutshof. Das ist ihr Angriffsziel. Es ist zwar nicht zu sehen, aber Sie brauchen nur auf das Wäldchen zuzugehen (er wedelt wieder winkend mit dem Arm), und dahinter sehen Sie es dann schon!“ Nach dieser reichlich nebelhaften Einweisung gehen wir wieder zum Bataillonsgefechtsstand zurück, um die Einzelheiten des Angriffs zu besprechen. Der Bunker ist voller Offiziere. Der Regimentskommandeur gibt einen kurzen Lagebericht: „Die Sowjets haben nach ihrem gestri••• S. 238 •••gen Trommelfeuer auf dem ganzen Barta-Abschnitt angegriffen und einigen Geländegewinn erzielt. Sie setzen ihren Druck auf unsere Front ständig fort und haben auch in der letzten Nacht den ganzen Kompanieabschnitt hier direkt vor uns eingedrückt und unsere Infanterie auf die zweite Linie zurückgeworfen. Dabei ist auch das Gut Dobeli verloren gegangen. Das Gut ist aber ein entscheidender Stützpunkt in unserer Verteidigungslinie. Wir müssen es zurückerobern, sonst gerät unsere ganze Front hier ins Wanken.“ Nun wendet er sich an mich: „Sie, Herr Leutnant, haben den Auftrag, das Gut zurückzuerobern, koste es, was es wolle!“
Oberst Mann ist ein kleines, drahtiges Männchen. Er spricht scharf und schneidend, um seinen Ausführungen mehr Nachdruck zu verleihen. Er entwickelt jetzt seinen Operationsplan und gibt dann den Befehl an mich: „Sie greifen das Gut mit ihrer Kompanie an, nehmen es im Sturm und besetzen es mit einem Zug. Dann schwenken Sie sofort nach Osten ein und säubern den anschließenden Wald vom Feind. Links rückwärts gestaffelt folgt eine weitere Kompanie, die den Anschluss nach links sicherstellen soll. Zur Unterstützung ihres Angriffs wird die gesamte Regimentsartillerie eingesetzt, die mit einem Feuerschlag auf das Gut den Angriff einleiten wird. Bei Beginn des Feuerschlages treten Sie an. Sie erhalten zur Verstärkung zwei Sturmgeschütze des A.R. (Artillerie-Regiment) 87[5], die am rechten Flügel Ihrer Kompanie mitfahren und dann, Ihre Kompanie überschießend, den Angriff unterstützen werden. Sie, Herr Leutnant, konzentrieren Ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf den Angriff. Sie kümmern sich weder um Verwundete noch um Tote. Die Versorgung der Ausfälle und die Nachrichtenverbindung übernimmt das Regiment. Haben Sie verstandenen?“ „Jawohl, Herr Oberst!“ Der Oberst tritt auf mich zu, reicht mir die Hand und sagt: „Der Angriff ist schwierig, aber wir müssen es schaffen!“ Die Besprechung ist beendet. Und während wir den Bunker verlassen, drücken mir auch die anderen Offiziere heimlich die Hand.
Gerade will ich aus der Bunkertür heraustreten, da rauscht es mit Zischen und Heulen heran. Brach-bruch-bräch-kränng. Eine ganze Salve von Stalinorgeln kracht mit widerlichem Getöse in und um die Mulde. Die meisten Raketen krepieren oben auf der freien Fläche, wo sie aber unter den weit verstreut liegenden Soldaten keinen Schaden anrichten. Einige aber treffen die Grube, in der sich noch einige meiner Gruppen befanden. Sprühender Funkenregen, Feuerblitze, Qualm und wirbelnde Äste erfüllen die Mulde. Die Geschosse waren auch unter meine Männer gefahren, und während der Rauch in dünnen Schwaden abzieht, ertönen durch die nachfolgende Stille die ersten Schreie nach dem Sanitäter und die Rufe der herbeieilenden Helfer. Mit einigen Sätzen bin ich bei meinen Männern. Kameraden packen schon zu und tragen die Getroffenen in die Bunker. Mit 8 Ausfällen an Toten und Verwundeten beginne ich meinen Einsatz, bevor überhaupt der erste Schritt gemacht ist. Noch schlimmer ist, dass die Männer jetzt einen Schock bekommen haben. Ich gehe nun zu den oben im Schnee liegenden Zügen, rufe die Zugführer zusammen und gebe alle notwendigen Anweisungen zur Durchführung unseres Angriffs.
Wir sollen mit allen verfügbaren Waffen angreifen. Also muss ich die schweren MGs und die Ofenrohre mit den schweren Munikästen mitschleppen, einen Kilometer durch tiefen Schnee. Nun steht die Kompanie, zugweise gegliedert, am Rand einer Hecke und wartet auf mein Zeichen. Ich warte auf den Feuerschlag der Artillerie.
Da – ein paar dumpfe Abschüsse hinter uns. Der Feuerschlag setzt ein. Ich gebe den Befehl: „Kompanie marsch!“ Aber es ist schon wieder still. Sollte dies der ganze Feuerschlag der gesamten Regimentsartillerie gewesen sein? Der müsste doch ganz anders trommeln! Immerhin folgen noch einige Abschüsse. Die Sturmgeschütze rollen mit brummenden Motoren an und übertönen das feine Zischen der Granaten, die über uns hinwegziehen. Dann ist der Feuerschlag der Artillerie beendet.
Meine Kompanie war in hundert Metern Breite angetreten, hat inzwischen die HKL erreicht, überschreitet den Graben der Infanterie und stapft nun in der dämmerigen Winternacht ins Niemandsland hinein. Die Sturmgeschütze rasseln rechts von uns auf der Straße nach vorn und sind nur als Schatten zu erkennen. Jetzt höre ich weit vorn ihre ersten Schüsse. Was soll diese unnütze Ballerei? Die Sturmgeschütze sind viel zu schnell. Sie müssen doch warten, bis wir heran sind! Wir waten durch den Schnee vorwärts, schweigend. Von Zeit zu Zeit tritt einer in eine zugeschneite Mulde oder einen Granattrichter und stürzt zu Boden. Die Männer beginnen zu zögern. Der lange An••• S. 239 •••marsch ist ihnen unheimlich. Mühsam geht es weiter durch den tiefen Schnee. Immer öfter knien sich die Soldaten hin und blicken gespannt nach vorn. Sie fürchten vielleicht, dass wir hinter die russischen Linien geraten. Aber sie sind wohl auch nur müde.
Es ist ja eigentlich ein Wahnsinn, eine völlig unerfahrene Kompanie bei ihrem ersten Fronteinsatz auf einen Nachtangriff zu schicken. Dazu noch eine MG-Kompanie, die in der Angriffstechnik einer Schützenkompanie überhaupt nicht geschult ist, und deren Männer seit zwei Tagen und Nächten nicht geschlafen haben und sich dann noch einen eineinhalb Kilometer weiten Weg durch tiefen Schnee mit schwerem Gerät schleppen müssen, bevor der Angriff überhaupt beginnt. Und obendrein haben sie noch die Schreie der Verwundeten nach dem Katjuscha[6]-Feuerüberfall in den Ohren.
Immer noch schleppen wir uns durch den tiefen Schnee vorwärts, bepackt mit schwerem Gerät, die Männer sichtlich bedrückt von einer leisen Beklemmung wegen der unsichtbaren Gefahr in dem weiten Niemandsland weit vor der eigenen Front. Fast eine Stunde ist seit Angriffsbeginn vergangen. Jetzt haben wir das Wäldchen erreicht, das mir der Hauptmann gestern als Richtpunkt angegeben hatte. Vorsichtig nähern wir uns dem Gehölz, jederzeit auf einen Feuerüberfall gefasst. Aber es bleibt ruhig. Von links tönen plötzlich Hurra-Rufe herüber. Die Nachbarkompanie greift an. Sie ist etwas rückwärts gestaffelt, muss aber durch einen Wald. Sie ist früher auf den Feind gestoßen. Ich sporne meine Leute an, damit wir nicht nachhinken. Ein Teil meiner Kompanie hat das Gehölz durchschritten, ich selbst bin mit dem anderen Teil seitlich herumgegangen. Nun liegt unser Angriffsziel deutlich vor uns: Das große, zweistöckige Wohnhaus des Gutshofes. Was noch dahinter liegt, kann man nicht sehen. Zwischen uns und dem Gutshof liegen knapp zweihundert Meter offener Schneefläche. Ich gehe sofort zum Angriff über, obgleich die Männer etwas erschöpft sind.
„1. Zug links heraus, dringt durch den Wald bis in die Höhe des Gutes vor.
2. und 3. Zug unter meiner Führung greift das Gut frontal an.
4. Zug geht hier im Wäldchen in Stellung und unterstützt den Angriff mit Feuer.
Funktrupp bleibt im Wäldchen. Auf, marsch!“
Wir gehen geduckt vor. Der Feuerschlag der Artillerie hätte jetzt kommen müssen. Er war zeitlich viel zu früh angesetzt. Die Russen haben unser Herannahen erkannt und eröffnen das Feuer. Ein Granatwerferfeuerschlag rauscht heran und schlägt mit Bersten und Krachen in das Gehölz. Verwundete rufen nach dem Sanitäter, aber ich soll mich ja nicht um sie kümmern. Dennoch laufe ich rasch mal zurück. Einer hat einen Splitter im Fuß und kann nicht mehr laufen. Der andere ist schwer getroffen und liegt zusammengesunken im Schnee. Ich tröste sie ein wenig und laufe wieder nach vorn.
An der gut sitzenden Lage der Einschläge erkenne ich, dass die Russen auf das Wäldchen eingeschossen sind. Daher ziehe ich die MGs, die dort Stellung bezogen hatten, sofort heraus und setze sie mit zum Angriff ein. Nur die Funker lasse ich dort. Sie ziehen sich mit ihren Geräten in ein Erdloch hinter dem Wäldchen zurück.
Plötzlich dröhnen rechts hinter uns mehrere knallharte Abschüsse. Mit rasender Rasanz pfeifen die Granaten dicht über unsere Köpfe hinweg und fahren krachend in das Gehöft. Die erschreckten Landser haben sich in den Schnee gedrückt und kommen nicht mehr hoch. Wer einmal bei einem Angriff mitgemacht hat, der von rückwärts mit Artillerie- oder Panzerunterstützung vorgetragen wurde, der weiß, wieviel Nerven anfänglich dazugehören, weiterzulaufen. Man hat das Gefühl, als ob die Granaten in Kopfhöhe vorbeifetzen und einen jeden Augenblick zerreißen. Für die armen Kerle meiner Kompanie ist das einfach zu viel für das erste Mal. Diese Feuerunterstützung erweist sich eher als Bremse denn als Ansporn. Ich brülle eine kurze Erklärung und rufe: „Wir müssen die Feuerunterstützung ausnützen – vorwärts – stürmen!“ Und da handeln besser ist als reden, springe ich vorwärts. Einige Männer fassen sich ein Herz und folgen mir, aber die nächste Salve drückt sie wieder in den Schnee. Immerhin haben wir doch etwas Gelände gewonnen. Die Sturmgeschütze fahren zurück.
Ein Sturmangriff ist bei diesem tiefen Schnee gar nicht möglich. Wir müssen uns robbend heranarbeiten. Der Schnee gibt uns Deckung, erschwert aber auch das Vorwärtskommen. Rechts und links von mir arbeiten sich zwei MGs nach vorn. Direkt vor dem Gutshaus steht noch ein kleines, unscheinbares Blockhäuschen, aus dem uns MG-Feuer entgegenschlägt. Laut und scharf knattern die Schüsse durch die Winternacht. Ziiu-sssiiin, sssschscht-plupp. Mit rasender Geschwin••• S. 240 •••digkeit zischen die Garben über unsere Köpfe hinweg und puffen mit ersticktem Laut in den Schnee. Meine beiden MGs sind in Stellung gegangen und rasseln ihre Garben gegen das Blockhaus. Ein tödliches Duell.
Jetzt dröhnen plötzlich links im Wald einzelne Gewehrschüsse. Der 1. Zug ist also auf Widerstand gestoßen. Wie Donnerschläge hallen die einzelnen Gewehrschüsse durch den Wald und verklingen in der Ferne mit unwilligem Brummen. Wie ich nun nach links zum Wald hinübergucke, erkenne ich am Waldrand vier kleine Holzhütten, aus denen Schüsse peitschen. Entfernung 100 m und direkt in unserer Flanke! Das Halbdunkel der Winternacht hatte sie uns bisher verborgen.
Das sind so die unvorhergesehenen Überraschungen, die die beste Planung über den Haufen werfen. Aber auch die Planung war schon nicht die beste. Es war immer nur von dem Gut die Rede, das da vor mir liegt. An die vier kleinen Hütten hat niemand gedacht. Der Einweiser hätte mir eine genauere Beschreibung des Gutshof-Geländes geben müssen. Nun ist es zu spät. Von den Hütten erhalte ich jetzt aus nächster Nähe Flankenfeuer. Außerdem liegen sie wie ein Keil zwischen mir und dem 1. Zug. Flankenfeuer ist immer eine scheußliche Sache, aber hier aus dieser kurzen Entfernung ist es ja lebensgefährlich. Also: „Linkes MG Zielwechsel links, die Blockhütten!“ Ich muss meine Feuerkraft teilen. Wenn das Feuer zeitweilig abflaut, höre ich in den Blockhütten durch die Stille das metallische Klicken der Verschlüsse an den Waffen. Auch erregtes Sprechen und Ladegeräusche. Ich kann mich aber um die Hütten nicht weiter kümmern. Das ist Aufgabe des 1. Zuges. Diese plötzliche Gefahr aus der Flanke hat unseren Angriff sowieso schon verzögert. Also weiter vorwärts. Es zischt und pfeift um uns herum. Ssssst -zing -rattatatstat -ziiu-ziiu - ssssst. Noch 100 Meter bis zum Gehöft. Aber es ist eine tischebene, weiße Fläche, auf der wir uns deutlich abheben. Mein MG rasselt unermüdlich seine Garben und Feuerstöße in das Blockhaus. Mir scheint, da drüben ist es stiller geworden. Auch aus den Hütten am Waldrand in unserer Flanke bekommen wir kein Feuer mehr. Entweder schießen die Russen jetzt in den Wald auf den 1. Zug, oder sie haben sich zurückgezogen, um nicht abgeschnitten zu werden, denn wir waren schon an ihnen vorbei.
Bisher waren wir langsam aber sicher vorangekommen. Allmählich jedoch wird der Angriff immer lahmer und beginnt zu stocken. Da liegen wir nun im tiefen Schnee, unserer einzigen Deckung. Ich liege in einer richtigen Wanne, die ich durch Wälzen erweitert habe. Das Feuer flackert auf und flaut wieder ab. Im Augenblick ist es fast still. Da gellt aus dem Wald ein grässlicher Schrei. Es ist ein gequältes, tierisches Heulen. Ein auf- und abschwellendes grausiges Brüllen, das von Zeit zu Zeit verstummt und in tiefes Stöhnen übergeht. Ich kenne das von früheren Gefechten: Kopfschuss! Sobald der Gefechtslärm nachlässt, hallt dieses furchtbare Heulen durch die Nacht, wird durch das Echo des Waldes grausig verstärkt und zermürbt vollends die Nerven der übermüdeten und überforderten Männer. Zum Glück hat es nicht sehr lange gedauert, aber die Wirkung bleibt. Der Angriff stockt endgültig. Dabei sind es nur noch 80 Meter!
Es muss etwas geschehen. Ich muss den Angriff wieder in Schwung bringen. Ich werfe einen Blick in die Runde und nach hinten, um die Situation zu erfassen. Ich liege ganz vorn in der Angriffsspitze. Rechts neben mir liegt still und tot ein gefallener Kamerad. Ich bemerke es jetzt erst. Gesicht und Hände sind in den Schnee gebohrt, und der Lauf seines Karabiners ragt schräg in die Luft. Armer Kerl! Wie ein treuer Hund ist er nicht von meiner Seite gewichen und ist gefallen, ohne dass ich es bemerkte. Etwas weiter rechts, fünfzehn Meter entfernt, liegt meine treue MG-Bedienung in Stellung. Auch sie ist mir nicht von der Seite gewichen. Schräg vor mir, fünf Meter entfernt, liegt noch ein einzelner Schütze. Insgesamt sind es etwa zehn bis zwölf Mann, die hier vorn in der Angriffsspitze liegen. Und die Masse der beiden Züge? Ich drehe mich um: Da liegen sie, rückwärts gestaffelt bis an das Wäldchen, von dem wir ausgegangen sind. Ich werde wütend. Da quält man sich hier vorne mit einer Handvoll pflichttreuer Männer ab, und die ganze übrige Bande guckt von hinten zu. Ich springe auf und laufe ungeachtet aller Gefahren zurück. Einmal, weil ich wütend bin, und zweitens, weil ich den Männern zeigen will, dass es gar nicht so gefährlich ist. Ich laufe bis zu den hinteren Gruppen zurück und schreie einen Landser an, der vor mir im Schnee liegt. Der ist noch keine fünfzig Meter vom Wäldchen weg. Der Landser entschuldigt sich: „Herr Leutnant, das ist mein erster Angriff!“ Ich treibe die Männer hoch und laufe wieder ••• S. 241 •••nach vorn. (Der Russe hat in solchen Fällen zuweilen hinter seinen angreifenden Soldaten Kommissare postiert, die auf jeden schießen, der zurückgeht oder nicht angreifen will.)
Es wird in letzter Zeit immer deutlicher: Die Soldaten greifen kaum noch von selbst an. Man muss sie antreiben. Ist man vorn, kommen sie nicht nach. Ist man hinten, bleibt vorn die Spitze liegen. Zwar war es schon immer so, dass in jeder Kompanie nur eine Handvoll wirklich tapferer Soldaten war, die die Masse der anderen mitgerissen hat. Aber die Schar der Tapferen in der Kompanie war früher größer, und die anderen folgten williger. Dass ich mit meiner jetzigen Kompanie besonders ungünstig dran bin, ist weder meine Schuld noch die der Männer. Auch in dieser Kompanie sind ja eine Anzahl braver und tapferer Soldaten. Schon ein einziger Angriff genügt, um sofort die Guten von den Schlechten unterscheiden zu können. Der frühere Kampfgeist der Truppe ist jedenfalls weitgehend geschwunden.
Ich bin wieder vorn und habe mich hingeworfen. Da höre ich Schritte hinter mir. Ich drehe mich um und erkenne Leutnant Harms. Er wirft sich hinter mir in den Schnee und meldet: „Herr Leutnant, ich komme nicht mehr vorwärts. Mein ganzer Zug ist aufgerieben!“ Ich zische zurück: „Was sagen Sie?“ Er wiederholt: „Ich habe vielleicht noch fünf Mann!“ Ich glaube ihm nicht. Ich kenne Harms schon zur Genüge, und ich kenne die übertriebenen Berichte, die unter Schockwirkung entstehen. Aber wie dem auch sei, ob Feigheit oder Schock: Wenn es stimmt, was er sagt, wird die Sache kritisch. Wenn er flunkert, zeigt das die völlig gebrochene Kampfmoral dieses Zugführers. Und das ist ebenso kritisch.
Da kommen plötzlich zwei Fernsprecher angetrabt. Der eine hat die Kabeltrommel auf dem Rücken, der andere trägt den Feldfernsprecher. Sie laufen bis zu mir nach vorn und werfen sich neben mir in den Schnee. Während sie erklären, dass sie vom Regiment kommen, schließen sie den Apparat an. Ich nehme den Hörer und melde mich. Es meldet sich am anderen Ende ein Offizier des Regimentsstabes. Ich erkläre ihm, dass ich sechzig bis siebzig Meter vor dem Gutshaus liege und der Angriff zur Zeit etwas stockt und dass der 1. Zug vermutlich aufgerieben ist. Da wir dicht vor dem Feind liegen, muss ich leise sprechen. Der Kamerad da hinten ist scheinbar nicht recht zufrieden (ich auch nicht!). Mit einem kurzen „danke“ legt er auf.
Elende Situation: Erstens: Der unverhoffte Flankenangriff aus den vier Hütten hat den Angriff verzögert und Verluste gekostet. Zweitens: Der 1. Zug hat überhaupt nichts erreicht. Im Wald links von uns sitzen die Russen und drohen uns abzuschneiden, wenn wir weiter vorgehen. Drittens betragen die Ausfälle 20 bis 25 % (Harms Meldung als richtig vorausgesetzt). Viertens muss ich bei weiterem Vorgehen wie bisher mit weiteren Verlusten rechnen. Fünftens ist fraglich, ob ich mit dem Rest der Kompanie das Gut halten, geschweige denn den Wald links noch säubern kann, wie es mein Auftrag befiehlt. Sechstens sind die Männer übermüdet und durch den Feuerüberfall der Stalinorgel, der Granatwerfer, durch die Schreie der verwundeten und sogar durch das Überschießen der Panzer demoralisiert und am Ende ihrer Körper- und Nervenkräfte.
Unter diesen Umständen komme ich hier nicht weiter. Also kehrt, zum Wäldchen zurück, Kompanie neu gliedern, ein bisschen Mut machen und den Angriff von einer anderen Seite noch einmal beginnen. So haben wir es gelernt.
Ich gebe also Befehl, langsam zurückzukriechen und am Wäldchen zu sammeln. Den Toten neben mir muss ich leider liegen lassen. Als die weiter hinter uns Liegenden – vor allem die, die fast noch am Wäldchen liegen! – erkennen, dass wir uns zurückziehen, machen sie ebenfalls kehrt, und viele von ihnen bleiben nicht etwa beim Wäldchen, sondern laufen eiligst in Richtung auf unsere Front zurück. Sie hauen einfach ab! Ich sehe sie hinten im Dunkel verschwinden, ohne sie zurückrufen zu können.
Es ist immer dasselbe in solchen Situationen. Da sind dann immer welche, die beim Vorgehen Blei in den Hosen haben und nicht vorwärtskommen. Sobald sie aber auch nur eine Andeutung von Rückwärtsbewegung erkennen, kriegen sie das Laufen, hauen nach hinten ab, schnell wie die Wiesel, und sind nicht mehr zu bremsen. Ob das nun aus Angst oder auch mal aus einem Missverständnis geschieht, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls liegt hier eine große Gefahr, weil diese Feiglinge oft alle anderen mitreißen.
(Eigentlich hätte mein Befehl, am Wäldchen zu sammeln, von Mann zu Mann nach hinten weitergegeben werden müssen. Aber diese Blindgänger haben das gar nicht gelernt oder sie haben schon völlig Kopf und Nerven verloren.)
Ich sammle also die Kompanie am Wäldchen, um sie neu zu gruppieren. Plötzlich steht ••• S. 242 •••der Regimentsadjutant vor mir, und bevor ich etwas sagen kann, schreit er wie besessen auf mich ein. Er hat natürlich die Zurückrennenden getroffen, die ihm, um ihre Feigheit zu tarnen, die finstersten Geschichten oder wahrscheinlich sogar von einem Rückzugsbefehl erzählt haben. Nun trifft er mich hier auch noch am Wäldchen stehend, statt angreifend. Er brüllt weiter: „... Wenn Sie das Gut nicht innerhalb einer halben Stunde erobert haben, dann kommen Sie und Ihr ganzes Unteroffizierkorps vor ein Kriegsgericht!“[7] Nachdem er nun offenbar ausgetobt hat, will ich ihm antworten. Da rauscht es in der Luft, und schon dröhnt und kracht es um uns herum, dass der Luftdruck unsere Kleidung beutelt. Blitzschnell liegen wir flach auf dem Boden. Bruch-Krach-Zänng-zing. Russische Granatwerfer. Der Iwan hat das Geschrei des Adjutanten gehört und uns gleich mit einer Lage eingedeckt. Als der Feuerschlag verrauscht ist, stehe ich auf, um dem Adjutanten zu antworten und ihm einige Erklärungen zu geben. Aber der Herr Oberleutnant ist nicht mehr da! Er hat sich diskret zurückgezogen, und sogar noch schneller als die Feiglinge meiner Kompanie!
Ja, so ist das nun. Da hat das Regiment eine Kompanie unterstellt bekommen, die die Geländeverluste des Regiments wieder gutmachen soll. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, denn das ist unsere Aufgabe, in Brennpunkten eingesetzt zu werden. Aber die Versuchung, die unterstellte Einheit die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen und die eigenen Männer zu schonen, ist groß und verständlich. Man sollte aber von solcher Einheit nicht mehr verlangen als man selbst zu leisten vermag. Schließlich ist ja das Regiment aus den Stellungen hinausgeworfen worden, und jetzt wollen sie mich hängen, weil ich diese Stellung nicht auf Anhieb wiedergewinne. Dabei ist es leichter, eine Stellung zu halten als sie wieder zu erobern. Der russische Druck ist gewaltig. Das Regiment hat ihm nicht standgehalten und ist zurückgewichen. Und jetzt wollen sie mich vor ein Kriegsgericht stellen, weil ich diesen russischen Stoß nicht gleich wieder zurückdrängen kann. Das ist kein Krieg mehr, das ist Krampf. Das hysterische Geschrei des kreischenden Papageis vorhin war symbolisch, typisch für die ganze Kriegslage. Unsere fieberhaften Anstrengungen überzieht bereits der hektische Glanz übermenschlichen Willens. Bei aller bewunderungswürdigen Widerstandskraft unserer Truppen spürt man nicht mehr den Glauben an den Sieg, sondern die eiskalte Luft soldatischen Fanatismus’ oder hysterischer Untergangsstimmung, die heroische Resignation oder den faulen Hauch des Drückebergertums. Auch Hitlers Energie ist zur Grausamkeit geworden.
Ich habe meine Züge neu gegliedert und erkläre ihnen meinen Angriffsplan : Wir wollen das Gut von der Seite packen. Deshalb werde ich mich mit einem Zug im Bogen an das Gut heranschleichen und es aus der Flanke stürmen. Der andere Zug, aus zwei MGs und einigen Gruppen bestehend, soll dagegen weiter aus der bisherigen Richtung angreifen oder wenigstens feuern, um die Russen an dieser Seite zu binden. So zersplittern wir auch sein Abwehrfeuer. Ich befehle dem Kompanietruppführer noch, am Ende des Zuges zu bleiben, damit niemand zurückbleibt.
Neuer Anlauf! Ich setze mich wieder an die Spitze und schleiche im Schutz einer Bodenwelle einen Weg entlang, der fast wie ein Hohlweg an dem Gutshof vorbeiführt. Gebückt, manchmal kriechend, gehe ich vor. Hinter mir folgt der Zug. Keuchend und schwitzend erreiche ich ein Gebüsch, das sich seitlich des Gutshofes ausbreitet. Von hier aus will ich angreifen. Ich warte, bis die Männer heran sind. Dann schieben wir uns durch das Gebüsch bis an den vorderen Rand. 40 Meter vor uns liegt das Gutshaus. Wir sind schon auf dem Gutshof. Zwischen uns und dem Haus liegt nur noch ein Bunker, aber da rührt sich nichts. Auch im Haus ist es still.
••• S. 243 •••Neben mir liegt ein Obergefreiter vom Regimentsstab. Er war gerade angekommen, als ich zum zweiten Angriff ansetzte. Er hatte mir den Befehl vom Regiment gebracht, den Angriff abzubrechen. Da ich nun aber mitten im Zuge war, wollte ich meine Aufgabe auch zu Ende führen. Um aber einen Zeugen für meine Aktion zu haben, habe ich ihn mitgenommen. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt. Jetzt liegt er sogar mit mir hier ganz vorn. Er ist ein tapferer Bursche. Ich ziehe ein Rohr unserer Panzerschrecks nach vorn, dazu zwei Mann mit der schweren Munikiste. „1 Schuss fertigmachen – Bei Abschuss auf und angreifen!“ In aller Eile laden die Männer. Ich liege mit etwa zehn Mann in vorderster Linie hart am Rande des Gebüschs. Der Panzerschreckschütze meldet: „Fertig!“ Ich kommandiere: „Feuer!“ Zischend fährt die Rakete aus dem Rohr, einen Feuerschweif nach sich ziehend. Dann schlägt sie krachend in das Haus. In das Krachen des Einschlags tönt mein Kommando: „Sprung auf – Hurraaah!“ Die Gruppe springt hoch, und mit Hurra stürmen wir vorwärts auf das Haus zu. In der Stille der Winternacht dringt unser Sturmruf weit über das Land. Es mögen zehn bis zwölf Mann sein, die mit mir springen. Der Soldat, der vorhin schon vor mir gelegen hat, läuft auch jetzt wieder vor mir her. Ein furchtloser Geselle. Es gibt also auch jetzt noch und sogar in dieser Kompanie tapfere Männer. Wir haben den Bunker erreicht und sind noch 20 Meter vom Haus entfernt. Kein Abwehrfeuer! Das Haus scheint schon geräumt zu sein.
Da rattert es los, als wenn die Hölle aufgerissen wäre. Ein rasendes Infanteriefeuer schlägt uns aus der Flanke entgegen. Blitzschnell werfen wir uns zu Boden und drücken uns tief in den Schnee. Singend und zischend pfeift der Kugelregen über uns hinweg, peitscht durch das Gebüsch, surrt als Querschläger durch die Luft. Ich werfe einen raschen Blick nach rechts. Das Aufblitzen der Mündungsfeuer zuckt wie eine glitzernde Perlenkette durch die Nacht. Das Feuer kommt aus einem Schützengraben, der hinter dem Gutshaus entlangläuft und mit Russen vollbesetzt ist. Sie hatten sich aus dem Haus zurückgezogen und überfallen uns jetzt aus der Flanke. Eine ihrer üblichen Überraschungen.
Jetzt bellt auch noch eine Pak los. Mit wütendem Zischen hauen die rasanten Geschosse in den Boden. Jedes weitere Vorgehen wäre jetzt Selbstmord. Der Draufgänger vor mir hatte gleich kehrtgemacht, als der Feuerüberfall begann. Ich entschließe mich, den Angriff abzubrechen. Müde drehe ich mich um. Die Männer sind schon alle hinter dem Gebüsch verschwunden. Abgeschlagen! Mein erster misslungener Angriff. Schwerfällig richte ich mich auf. Eine bleierne Müdigkeit befällt mich plötzlich. Mein letzter Begleiter läuft an mir vorbei dem schützenden Gebüsch zu. Ich bin der Letzte. Ich wanke durch den tiefen Schnee zurück. Kriechen kann ich nicht mehr. Meine Beine sind schwer, ich kann sie kaum noch heben. Erst jetzt spüre ich, dass ich völlig erschöpft bin. Die schlaflosen Nächte wirken sich aus. Es ist, als ob mit dem abgeschlagenen Angriff auch meine letzten Kräfte verbraucht sind. Ich denke nichts, ich fühle nichts. Die russischen Leuchtspurgeschosse zischen rechts und links an meinem Kopf vorbei. Ich könnte sie greifen, wenn ich den Arm ausstreckte. Ich achte nicht darauf. Aufrecht schwanke ich weiter. Es ist kein Mut, es ist völlige Apathie.
Dann erreiche ich das Gebüsch und dahinter den flachen Hohlweg , der mir etwas Schutz bietet. Nun flaut auch das Feuer ab. Ich erreiche das Wäldchen, wo die Züge sammeln. Die Männer waren etwa dreißig Meter vor mir hergegangen. Ich hatte sie immer vor Augen. Ich sammle den Rest der Kompanie, das Gerät und will abrücken. Da liegt noch ein Schwerverwundeter am Wäldchen. Als er bemerkt, dass wir zurückgehen, stöhnt er laut auf. Ich spüre seine Angst, dass wir ihn womöglich liegen lassen. Ich befehle vier Mann, ihn aufzunehmen. Sie zögern, wollen sich drücken. Aber da fahre ich sie wütend an, lasse die Kompanie halten und gehe nicht eher weiter, bis sich die Leute bequemen, ihren verwundeten Kameraden aufzuheben und zurückzutragen. Zu Beginn des Krieges wäre solche Szene unmöglich gewesen.

18.Armee: X.A.K.: 87.J.D.: Der gegen die Abriegelungsfront auf dem linken Flügel der Div. den ganzen Tag über anrennende Gegner konnte die eigene HKL. beiderseits der Strasse Gederti, Bumbuli nur geringfügig eindrücken. Führung und Truppe haben sich erneut im Abwehrkampf hervorragend bewährt.
Mit 70 Mann habe ich den Angriff begonnen, mit 49 komme ich zurück. Das Scheitern des Angriffs war nicht meine Schuld. Der Gegner war stärker. Ich war bis an das Gutshaus vorgedrungen, eine Handvoll beherzter Männer und braver Soldaten hat sich treu und rücksichtslos an meiner Seite eingesetzt. Mehr konnten wir nicht tun.
Das Regiment hat sich nicht mehr gemeldet. Weder Oberst Mann noch der hysterische Oberleutnant, den ich gern noch einmal gesprochen hätte. Um die Toten und Verwundeten haben sie sich auch nicht gekümmert. Mein famoser Kompanieoffizier, Leutnant Harms, kam übrigens nicht mit 5 Mann, sondern mit 20 Mann zurück. Entweder hat er also gelogen (was ich glaube) oder er hat im Wald die Übersicht verloren (dann ist er als Zugführer unfähig). Um etwas gegen ihn zu unternehmen, reichen die Beweise nicht. Aber mit solchen Zugführern kann man keinen erfolgreichen Angriff führen.
Meine angeschlagene Kompanie wird zur Verstärkung der Verteidigungslinie auf die Stellungen verteilt. Ich selbst ziehe mit meinem Melder und einigen Leuten in einen Bunker, in dem die Geschützbedienung einer Vierlingsflak und ein junger Artillerieleutnant liegen. Die Vierlingsflak steht ganz in der Nähe und der Artillerieleutnant ist als vorgeschobener Beobachter im Graben. Ich bin todmüde, kann aber vor Übermüdung und innerer Erregung nicht schlafen. So liege ich stundenlang auf der Pritsche. Bleierne Müdigkeit lähmt meinen Körper und meine Denkfähigkeit.
Das ist ja das Schlimmste: Nicht der Kampf allein zermürbt, sondern die Anstrengungen aller Art, die schon tagelang vorher beginnen, die tage- und nächtelangen Vorbereitungen, der Anmarsch, der fehlende Schlaf und oft dazu noch Hitze, Kälte, Durst, Nässe. Und beim Offizier zusätzlich die Nervenbelastung durch Gedankenarbeit und Verantwortung. Ja, ein Offizier hat im Einsatz weit größere Last zu tragen als ein Landser. Das beginnt schon lange vor dem eigentlichen Kampf. Der Landser hat nur seine Knarre oder sein MG. Der Offizier muss sich um alle Waffen seiner Kompanie kümmern. Darüber hinaus läuft der Offizier schon lange vor Kampfbeginn zu Einweisungen, Einsatzbesprechungen und anderen Vorbereitungen, während der Landser häufig schon schläft. Im Kampf selbst trägt der Offizier dieselben Strapazen wie der Landser. Er rennt, kriecht, robbt, schwitzt, friert, hungert, wird nass, dreckig, blutig wie dieser. Darüber hinaus aber muss er noch sein Gehirn intensiv strapazieren: Feindbeobachtung, Wirkung seines Feuers und des Feindfeuers, Feindbewegungen, Feindabsichten zu erkennen versuchen. Überlegen, Entschlüsse fassen, Befehle geben. Beim Angriff in größerem Verband Verbindung mit dem Nachbarn halten und vieles andere mehr. Und er ist für alles verantwortlich. Gewiss hat er für viele Aufgaben seine Helfer, aber er darf und kann sich nicht allein auf sie verlassen. Alles dies erfordert angespannte Aufmerksamkeit und das kostet Nervenarbeit, die dem Landser erspart bleibt. Wie stark diese Nervenarbeit und die Konzentration ist, habe ich zweimal am eigenen Leibe erfahren. Die Konzentration auf die Kampfführung war so intensiv, dass ich die Schmerzen einer Verwundung nur ganz nebenbei, fast nur im Unterbewusstsein, registriert habe.
Solche Nervenanspannung bedeutet Nervenverschleiß. Und wenn sich der Landser nach dem Kampf zum Schlafen niederlegt, rennt der Offizier immer noch mit Meldungen und Berichten zum Bataillon, erhält neue Befehle und beginnt schon wieder die Vorbereitungen für den nächsten Kampftag. Geistige Arbeit ist wichtiger als körperliche. Nerven sind kostbarer als Muskeln. Sie sind auch schwerer zu heilen, wenn sie erst kaputt sind. Alle diese Aufgaben strapazieren den Offizier im Einsatz weit stärker als den einfachen Soldaten. Damit ist auch die Besserstellung der Offiziere in der Verpflegung in vielen Armeen gerechtfertigt. Sein größerer Verbrauch an Nervensubstanz erfordert eine hochwertigere Nahrung. Selbst die Sowjetunion hat trotz ihrer sozialistischen Gleichmacherei vier verschiedene Verpflegungsgruppen: für Mannschaften, Unteroffiziere, Offiziere und Generäle. In der Deutschen Wehrmacht gibt es das nicht.
Hier noch ein Zitat: „Es ist gut, wenn der Führer alle Lasten des letzten Mannes mitträgt und kennt, damit er im richtigen Moment die richtigen Mittel anwendet. Aber es ist wichtiger, dass er in entscheidenden Augenblicken frischer ist als der letzte Mann, sonst kann seine Führungsaufgabe, die geistiger Natur ist, an der körperlichen Erschöpfung zerbrechen.“[9]
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ 1,0 1,1 im Original sowie in KTBs, Tagebuch und Soldbuch zeitgemäß „Keisteri“, auf der Karte des westlichen Russland Blatt H16 Libau Süd „Rute“, heute Ķesteri, Ortsteil der Gemeinde Dunika
- ↑ 2,0 2,1 im Original sowie in KTBs, Tagebuch und Soldbuch zeitgemäß „Sandarti“, auf der vorgenannten Karte „Ww. (Waldwärter) Sander, Bauerschaft Bumbul“, auf der Deutschen Heereskarte Osteuropa 1:300.000 Blatt R 57 „Bumbuļi“, heute Sanderi, Ortsteil der Gemeinde Dunika
- ↑ im Original irrtümlich „nach Westen“
- ↑ Tagesmeldung HGr N von 23.01.1945 (KTB OKH, NARA T-78 Roll 308 Frame 6259659); „N[ördlich von] Gederti“ meint (auch) Dobeli
- ↑ Oehmichen/Mann S. 400 nennen die Sturmgeschütz-Abteilung 1187, gem. Balsi gebildet aus der 2./Panzer-Jäger-Abt. 187 mit 5 Sturmkanonen 40, d. h. Sturmgeschützen III G
- ↑ die russische Bezeichnung für das Salvengeschütz (Mehrfachraketenwerfer), das die Deutschen Stalinorgel nannten
- ↑ In den Monaten zuvor hatte der OB Schörner mehrfach das Versagen von Verbänden kriegsgerichtlich untersuchen lassen (KTB HGr N, v.a. Oktober/November 1944).
- ↑ Tagesmeldung HGr Kurland von 24.01.1945 (KTB OKH, NARA T-78 Roll 308 Frame 6259616/17)
- ↑ Hauptmann Rosenbrock in Benary S. 122