10. Oktober 1946
10.10.46. Erster Schnee. Wieder rollen Güterzüge mit Vieh und Fahrzeugen vorüber.
Okt. 46. Auch in diesem Jahr wurden wieder nur Kranke entlassen. Die Kriegsgefangenen werden bis zum körperlichen Ruin ausgebeutet und dann als menschliche Wracks nach Hause entlassen.
Ab Okt. 46 fällt die bisherige Zusatzverpflegung für besondere Leistungen fort. Der Verpflegungssatz pro Kopf wird von 200 auf 400 Rubel erhöht. Die Sowjetunion ist nicht in der Lage, sich selbst zu ernähren. Der Grund liegt nicht allein in dem unberechenbaren Klima und in den Nachkriegsschwierigkeiten, sondern auch in der Unfähigkeit und Schwerfälligkeit einer staatlichen Planungsbürokratie, sowie der Korruption in weiten Kreisen der Funktionäre. Ob in Landwirtschaft oder Industrie: 30% aller Waren sind verdorben oder Ausschußware, 30% werden verschoben.
Selbst wenn bei uns z. B. Kartoffeln oder Fleisch mal vollständig geliefert und nichts verschoben wurde, sind die Kartoffeln nass und voller Sand, also unsachgemäß gelagert, oder es ist Gewichtsbetrug mit Wasser und Sand. Das Fleisch stinkt im Essen. Die Ärztin hat befohlen, es wegzuwerfen. Also geht das Hungern weiter.
Das ist das Schlimmste an unserem Los hier: Die Kriegsgefangenen der Westmächte wissen, dass sie eines Tages nach Hause kommen. Die Kriegsgefangenen der Sowjetunion wissen nicht, ob sie jemals in die Heimat zurückkehren werden. Über ihnen schwebt ständig das Damoklesschwert des Todes durch Krankheit, Verhungern, Erfrieren oder Erschießen.
Okt. 46. Durch Smolensk sind 2 Transporte nach Westen gekommen. Wahrscheinlich kranke Kriegsgefangene. Aus dem 1. Transport wurde 1 Toter, aus dem 2. Transport wurden 4 Tote ausgeladen. Registriert werden sie nicht.
2 Mann sind getürmt. Früher war schon mal einer geflohen. Er hatte an einem Betonmischer einen Zettel hinterlassen: „Kameraden, seid mir nicht allzu böse!“ Denn wenn jemand geflohen war, wurde meist das ganze Lager mit Strafe belegt (Genf!). Entflohene wurden meist wieder gefasst. Viele wurden dabei erschossen, und niemand wird jemals erfahren, was da geschehen ist. Es kam aber auch vor, dass man, um uns zu schrecken, uns nur vorlog, der Entflohene sei erschossen worden. In Wirklichkeit war der betreffende einfach in ein anderes Lager gebracht worden.
Einmal wurde wieder ein Ausreißer aus unserem Lager gefasst und ins Lager zurückgebracht. Die ganze Lagerbelegschaft musste antreten, und der Entflohene wurde vorgeführt. Er war fürchterlich verprügelt worden und sollte uns nun die Aussichtslosigkeit eines Fluchtversuches darlegen. Er fing an: „Ich soll euch sagen, dass Fliehen zwecklos ist!“ Der war hart!
Laut Genfer Konvention, die die Russen ja auch unterschrieben haben[1], darf der Fluchtversuch eines Gefangenen nur disziplinar bestraft werden, also z. B. mit Arrest, aber niemals mit körperlicher Züchtigung. Im allgemeinen hielt sich der Russe im Lager mit Körperstrafen oder Schlimmerem sehr zurück. Das besorgten – mit Wissen und stillschweigender Duldung der Russen – die eigenen „deutschen“ Kameraden vom Lageradel, das rote Gesindel der Lagerleitung, der Antifa und der WK-Mannschaft. Diese besaßen eine ganze Reihe von Privilegien: Vom Lagerschneider angefertigte Maßbekleidung, gutes und reichliches Essen, freien Ausgang in die Stadt nach Arbeitsschluss und manches andere mehr. Wenn nun jemand geflohen war, wurden diesen Genossen sämtliche Privilegien entzogen. Die Folge war, dass sie vor Wut kochten und den Entflohenen, wenn er zurück gebracht wurde, grauenhaft zusammenschlugen. Sie hatten hier im Lager 401/9 dafür besondere Leute, unter ihnen ein ehemaliger Amateurboxer. Ort solcher Exekutionen war der fensterlose ehemalige Vorführraum des Kinosaales. Kurz vor unserer Ankunft hier war in ••• S. 308 •••diesem Raum Hauptmann X zum Krüppel geschlagen worden.
Auf diese Weise behielt der Russe also immer eine weiße Weste, hatte die Genfer Konvention nicht verletzt, und die Entflohenen wurden trotzdem grausam bestraft. Die Lagerinsassen schwiegen meist, denn sie waren gegen diesen Terror machtloser, als die Deutschen zur Hitlerzeit. Hitlers Terror außer gegen die Juden war nicht schlimmer, als die Brutalität dieser „deutschen“ Kommunisten gegen ihre deutschen Landsleute.
Die Nachrichtenübermittlung zwischen den einzelnen Gefangenenlagern in der Sowjetunion war erstaunlich umfangreich. Wir wissen sogar über Vorgänge und Zustände in sibirischen Lagern Bescheid. Die Kanäle, durch die solche Nachrichten fließen, sind vielfältig. Da benötigt z. B. ein Lager im Ural Spezialisten, die nur in einem Moskauer Lager vorhanden sind. Also werden sie überstellt, und schon erfahren die Kameraden im Ural, wie es in den Moskauer Lagern zugeht. Oder ein Flüchtling aus einem Lager in Kaukasien wird in der Ukraine gefasst, dort in das nächstliegende Lager gebracht, wo er den ukrainischen Leuten von den Zuständen in kaukasischen Lagern erzählt. Oder aus einem Heimattransport, der aus Sibirien kommt, werden Kranke in Smolensk ausgeladen und nach ihrer Genesung vorerst in ein Smolensker Lager gesteckt. So erfahren wir Neuigkeiten aus Sibirien. Solche und ähnliche Vorgänge sind zahlreich.
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- ↑ so nicht richtig, vgl. Sowjetunion und Genfer Konvention