Der erste Westfale

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von Ralf Konecki

Aufgrund der rasch fortschreitenden Zersiedlung der Landschaft in der allerneuesten Zeit tauchten auf der anderen Seite zahlreiche Bodenurkunden aus ältester Zeit auf. So ist es der Spatenwissenschaft (= Archäologie) gelungen, die ersten Bauern Westfalens (jungsteinzeitliche Bandkeramiker) am Schopfe zu packen. In ihrem Aufsatz „Die Anfänge des Neolithikums in Nordrhein-Westfalen“ schreiben die beiden Archäologen Martin Heinen und Ulla Münch: „Die Bandkeramik erreichte Westfalen etwas später als das Rheinland, irgendwann zwischen 5300 und 5250 v. Chr. Auch hier war die Besiedlung zunächst an die fruchtbaren Lösszonen gebunden; das nordmitteldeutsche Flachland (zum Beispiel das Münsterland) mit seinen sandigen, nur mäßig fruchtbaren Moränenkuppen oder die weniger ertragreichen Böden der Mittelgebirge (zum Beispiel Sauerland und Bergisches Land) mieden die ersten Bauern. In diesen Gebieten existierten weiterhin mesolithische Jäger- und Sammlergruppen, je nach Region noch mehrere hundert bis fast 2000 Jahre lang. Kontakte zwischen der endmesolithischen Bevölkerung und der Bandkeramik bzw. den nachfolgenden mittel-, jung- und spätneolithischen Kulturen waren anscheinend nicht unüblich.“ (1)

Abb.1: Die linearbandkeramischen Fundplätze der ersten Bauern in der Hellwegbörder: grün umrandet = Lössboden; roter Punkt = Dortmund-Oespel
(Graphik: Winfried Schrödter nach (1) S. 127, Kartengrundlage: TUBS , CC0, via Wikimedia Commons)

Die ersten Bauern in Westfalen lassen sich auf eine Generation genau bestimmen. Sie siedelten einmal vom Rheinland kommend in Richtung auf die Dortmunder Börde und zum anderen Mal aus Hessen auf Warburger und Soester Börde zu (Abb.1). Seit dieser Zeit sind im Jahre 2020 ziemlich genau 7320 Jahre (= 5300 + 2020) vergangen. Sammler, Jäger und Landwirte, die in den natürlichen Kreisläufen denken, haben weder einen Hang zu einer linearen Zeitrechnung, noch fänden sie eine Orientierung nach Zeitären sinnvoll. Warum auch. In äußeren Dingen prägend sind aber Kulturen, die sich in Ären begründen. Das islamische Jahr zählt auf Grundlage eines historischen Ereignisses als festgelegten Zählanfang im Jahr 2020 das Jahr 1442, die römische Ära beginnt ihre Zählung mit der Ummauerung der Stadt Rom (a.u.c = ab urbe condita) und zählt anno 2020 schon 2773 Jahre, die christliche Ära zählt ab Geburt Christi. Diese Zählweise benutzen wir selbst. Sie ist mittlerweile weltweit verbreitet. Die jüdische Ära zählt 5781 Jahre. Weiter zurück als die Ära „seit der ersten bäuerlichen Besiedlung Westfalens“, die den Umbruch zur „Jungsteinzeitlichen Revolution“ markiert, läge nur noch die um 209 Jahren ältere byzantinische Ära mit 7529 Jahren (2).

Der Westfale auf den Westmärker Börden zwischen Soest und Bochum könnte, wenn er wollte, mit 7322 Jahren anno 2022 auf die zweitälteste Ära zurückblicken. Oder anders ausgedrückt: Vor ziemlich genau 7322 Jahren kamen die ersten Siedler vom Rheinland und der Warburger Börde und bestellten den fruchtbaren Lössboden nördlich von Ruhr und Möhne. Sie waren aber nicht die ersten Menschen, die in diesem Gebiet lebten. Ausgrabungen am Niederrhein zeigen, wie wir uns die Besiedlung zwischen unterer Ruhr und Salzkotten vorzustellen haben. Die Aufsiedlung einer Lössplatte erfolgt in der ersten Generation mit ein bis vier Häusern und rund 24 Bewohnern. Von dieser Pionierfamilie ausgehend wurden innerhalb von etwa 50 Jahren in geringer Entfernung weitere Einzelhöfe errichtet (3). Diese dem Lössboden geschuldete Besiedlung finden wir im Grunde noch heute vor, wenn wir auf die alten Höfe blicken, wie sie vor der Industriellen Revolution, teils bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bei uns noch Bestand hatte. Die Höfe in Oespel, Annen, Salingen, Persebeck, Großholthausen, Löttringhausen und Kleinholthausen liegen noch heute vergleichbar in geringer Entfernung zueinander. Und bis in die 1970-er Jahren hielten die Bauern neben dem Anbau von Kräutern, Gemüse, Getreide und Feldfrüchten vielfach auch Ziegen, Schafe, Hühner, Kühe, Pferde und Schweine. Daneben gab es vielfach den Obstgarten und einen Wachhund. Die zügellose Zersiedlung der Landschaft schnürt die Höfe mehr und mehr ein, wodurch sie zusehends die für das Leben notwendige Vielfalt verlieren. Vorherrschend wird zur Zeit der Freizeitreitsport betrieben. Aber es gibt sie noch, die Höfe mit „Landwirtschaft & Pensionspferden & Hofladen“ wie z. B. in Großholthausen.


(1) Martin Heinen/Ulla Münch: Die Anfänge des Neolithikums in Nordrhein-Westfalen, in: Thomas Otten/Jürgen Kunow/Michael M. Rind/Marcus Trier: Revolution Jungsteinzeit – Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen, Begleitkatalog zur Ausstellung (Bonn 2016, Detmold 2017, Herne 2017), S. 126-28).

(2) Hans-Ulrich Keller (Hrsg.): Kosmos Himmels-Jahr-2020, Stuttgart, S. 7).

(3) s. (1), S. 126.