8. Dezember 1944

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Inhaltsverzeichnis

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English
GEO INFO
Lübben (Spreewald) Karte — map
Lübben, Jäger-Kaserne

8.12.1944. In Lübben suche ich den Gebäudekomplex des OKH auf, frage mich nach der zuständigen Dienststelle durch und finde hier schon eine Reihe von Kameraden vor, die wahrscheinlich zu demselben Zweck hierher befohlen sind. Ich erfahre, dass man aus unseren Reihen einige Ausbilder für die Lehrgänge der Kriegsschule aussuchen will. Wir werden einzeln zu dem Personalbearbeiter hereingerufen. Jetzt bin ich an der Reihe. An der Zimmertür hängt das Schild: Hauptmann von NN[1]. Ich trete ein. Am Schreibtisch sitzt ein sehr junger Hauptmann. Ich schätze ihn auf 25 Jahre. Kaum habe ich mit dem üblichen deutschen Gruß gegrüßt, als er mich auch schon anfährt: „Was ist das für ein schlampiger Gruß?! Wir brauchen hier nur Soldaten mit straffer Disziplin, verstehen Sie!?“ Ich verstand nichts, denn ich war ziemlich verdattert. Zugegeben, ich habe nicht mit gerade ausgestrecktem Arm gegrüßt, sondern ihn nur etwas salopp hochgeworfen. Soll ich diesem jungen Mann erst klar machen, dass ein Frontoffizier mit langjähriger Kampferfahrung bessere Qualitäten für die Nachwuchsausbildung mitbringt als Zackigkeit? Aber das ist bei diesem brüllenden Wichtigtuer ••• S. 225 •••zwecklos. Man kann nicht an Vernunft appellieren, wo keine ist.

Nachdem er sich dann wieder beruhigt hat, fragt er mich nach allen möglichen Dingen. Er interessiert sich auffallend stark für meine Tätigkeit in NS-Organisationen. Da wurde ich hellhörig und gebe an, dass ich HJ-Führer war. Das stimmte so ziemlich. Als junger Sportlehrer war ich Sportreferent im Jungvolk, und in dieser Position hatte ich Anspruch auf den untersten Führerrang. Ich trug auch die Abzeichen, aber ich war in dieser Stellung nie offiziell bestätigt worden.[2] Jetzt macht sich der Hauptmann sogar Notizen. Das schien das einzige, was ihm an meiner Eignung zum Offiziersausbilder wichtig war. Mir ist sofort alles sonnenklar: Dieser junge, grüne Hauptmann da vor mir ist aus der Hitlerjugend hervorgegangen, große Schnauze, zackig und noch dazu adlig. Mit der nötigen Protektion durch die Partei bringt er alle Voraussetzungen für diesen Posten hier mit. Politische Linientreue wird wichtigste Voraussetzung für jegliche Qualifikation. Na, dann gute Nacht, armes Deutschland. Aber es ist ja zu allen Zeiten nie anders gewesen. Jetzt ist mir auch der Grund für seinen Wutanfall bei meinem Eintritt klar: Mein Hitlergruß war so lässig, dass er daraus meine antinazistische Haltung sofort erkannte oder zumindest vermutete. Und damit war ich für diesen Schnösel von vornherein erledigt.

Dann fragt er nach dem Brief, den mir meine Dienststelle mitgegeben hat. Ich greife in die Brusttasche meines Mantels und ziehe den Brief heraus. Als ich ihn hinübergereicht hatte, sagt der Fatzke plötzlich mit scharfer Stimme und drohendem Blick: „Der Brief ist ja geöffnet!“ Ich denke: ‚Das hat mir noch gefehlt.‘ Ich habe zwar ein reines Gewissen, bin aber doch von dieser peinlichen Situation sehr betroffen. Ich versuche, ihm und mir eine Erklärung für diesen unbegreiflichen Umstand zu geben. Im Bewusstsein meiner Unschuld erkläre ich ihm in aller Ruhe: „Ich habe den Brief selbstverständlich nicht geöffnet. Aber der Umschlag war schon einmal benutzt worden und daher beim zweiten Gebrauch mit einem Klebstreifen verschlossen worden (das war aus Ersparnisgründen allgemein üblich). Ich kann es mir nur so erklären, dass die Wärme unter meinem Mantel – im Zug war es sehr warm – den Klebestreifen gelöst hat.“ Was mir selbst aber unerklärlich blieb, war der Umstand, dass ich den Klebestreifen auch in der Brusttasche nicht fand.

Der Hauptmann schweigt und entlässt mich dann.

Während wir noch im Vorraum zusammensitzen, um die Entscheidung der Personalabteilung abzuwarten, tritt ein Major auf mich zu und erklärt mir ruhig und nicht unfreundlich: „Sie kommen für einen Ausbildungsposten hier nicht in Betracht. Aber wir erhalten soeben Ihren Gestellungsbefehl für eine Neuaufstellung. Sie sind dort als Kompanieführer vorgesehen.“ Das ging ja verdächtig rasch! Ich muss schon sagen, die arbeiten hier gut zusammen! Mir ist alles völlig klar.

Rückfahrt nach Meseritz. Der Zug ist wieder überfüllt. In etwas bedrückter und verdrießlicher Stimmung stehe ich, von den Mitreisenden eingekeilt, im Abteil. Einziger kleiner Lichtblick ist die gutaussehende Dame, die direkt vor mir sitzt.

Wie ich mich in Meseritz bei Major Huth zurückmelde, da habe ich kaum den Mund aufgemacht, als er mich schon mit einem wütenden Donnerwetter überfällt. Ich bin so überrascht, dass ich von dem ganzen Hagel von Vorwürfen nur wenig verstehe: „... kommen hier her und bringen mein Bataillon in Verruf...!“ (Wieder diese Angst, dass sein Renommee leiden könnte!) Wie ein Blitz kommt mir die Erkenntnis: Der Fatzke aus dem OKH hat natürlich sofort hier angerufen und den Major informiert, bevor ich zurück war. Ich finde es unverschämt, auf Grund vager Verdachtsgründe mich einfach zum Schuldigen zu stempeln und antworte erregt, dass ich den Brief nicht geöffnet und auch gar keine Veranlassung dazu gehabt hätte. Der Major kontert: „Sie können doch nicht leugnen, dass sie noch gestern Nacht bei dem Schreiber waren und nach dem Inhalt des Briefes gefragt haben, weil Sie sich offensichtlich dafür interessierten!“ Den Schreiber haben sie also inzwischen auch schon ausgefragt. In Gedankenschnelle wird mir klar, dass alle Indizien gegen mich sprechen. Eine verteufelte Situation! Da höre ich den Major wieder: „Gehen Sie ins Nebenzimmer zur Vernehmung!“ Ich gehe durch die Tür. Da sitzt schon ein Hauptmann bereit, und neben ihm eine Wehrmachtshelferin an der Schreibmaschine. Ich mache meine Angaben und äußere meine Vermutungen über das selbsttätige Aufgehen des Briefes. Es ist dürftig genug. Der Hauptmann ist sehr verständig, hört sich alles in Ruhe an und setzt das Protokoll in wohlabgewogenen, fast wohlwollenden Worten auf. Jedem vernünftigen Menschen muss die Möglichkeit, dass so ein Klebestreifen sich ablösen kann, auch einleuchten! Ebenso ist es ein gewisser Leichtsinn, einen bereits benutzten und aufgeschlitzten Umschlag ein zweites Mal für einen wichtigen ••• S. 226 •••Brief zu benutzen. Und schließlich wäre ich ja nicht so blöde gewesen, einen von mir geöffneten Brief einfach offen zu übergeben, zumal ich die Möglichkeit gehabt hätte, ihn mit einem eigenen Klebestreifen wieder zuzukleben. Immerhin sprechen schwerwiegende Umstände gegen mich, besonders die Tatsache, dass ich am Vorabend den Schreiber so neugierig nach dem Inhalt des Briefes gefragt habe. Ich weiß zwar nicht, ob diese Angelegenheit zu einem Kriegsgerichtsverfahren führen kann, aber allein der Gedanke an diese ganze Affaire lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Was für Tücken das Schicksal dem Menschen doch bereiten kann! Innerhalb von Sekunden sitzt man völlig unschuldig in einer verzweifelten Situation. Alles spricht gegen einen, man kann nichts Wesentliches zu seiner Entlastung sagen. Wenn man den schwerwiegenden Indizien mehr glaubt als einem Offizierswort, dann werde ich verurteilt. Und bin doch völlig unschuldig!

Ja, in diesem Falle unschuldig. Aber ist da nicht noch vieles, was ungesühnt ist? Die vielen Bosheiten gegen Gott und die Menschen? Der Undank gegen Gottes unendliche Güte, die er mir immer wieder unverdient erwiesen hat? Und wenn ich auch in diesem Fall unschuldig verurteilt werden sollte, so will ich es annehmen als Buße für die ungesühnten Sünden meines Lebens. Ich stehe in Gottes Hand. Was auch geschehen mag – es geschieht nicht ohne sein Wissen und seinen Willen.

Bei der Division in Frankfurt/Oder[3] kommt nun dieser Vorfall gleichzeitig mit meinem Beförderungsvorschlag an. Dann wird also aus der Beförderung vorläufig nichts werden. Diese Suppe hat mir der NS-Fanatiker im OKH eingebrockt. Hat er es wirklich? Nein, der kann mein Schicksal nicht bestimmen. Er ist nur Werkzeug in Gottes Hand.


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Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

  1. möglicherweise von Platen, am 01.07.1944 als Oberleutnant Hilfsoffizier im Heerespersonalamt, Amtsgruppe P1/1. (Zentral-) Abteilung, Hauptgruppe II, Gruppe IIe, zuständig u. a. für die Offizierstellenbesetzung der NS-Führungsoffiziere, des OKW, des OKH, des Generalinspekteurs für den Führernachwuchs (dem die Kriegsschulen unterstanden), der Stäbe vom Divisions-Stab aufwärts und der Feldjägerkommandos (NARA T-78 Roll 40 Frame 6002629, Abschrift in Forum für deutsche Militärgeschichte), also aller Stellen, für die der Autor vorgeschlagen worden war; die Ag P1/1. (Z)Abt war in Lübben/Spreewald, Jägerkaserne untergebracht (Frame 6002624)
  2. Hierzu erzählte der Autor gerne, dass er auf einem HJ- oder Jungvolk-Sportfest im Sportanzug statt in der Uniform erschien und dadurch den Unmut seines HJ-Führers erregte.
  3. Division 433