11. Oktober 1944
GEO & MIL INFO | ||||
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Dondangen | ![]() | |||
OKW-Lagekarte November 1944 | ![]() | |||
Kompanieoffizier im Grenadier- (Feldausbildungs-) Regiment 639 oder 640 der (Feldausbildungs-) Division Nord | ||||
H.Gr. Nord | ||||
GenOb SchörnerWP |
Wir haben recht gut geschlafen und gefrühstückt. Der Bataillonsführer ist zum Kommandeur des Feldersatzregiments[1] gegangen, um unsere Rückkehr vorzubereiten. Er kommt unverrichteter Dinge zurück. Man will uns hierbehalten! Das ist der dritte Nackenschlag, den mir dieser feige Lump in Landsberg eingebrockt hat! Der Regimentskommandeur beruft sich auf einen Befehl des OB Schörner, demzufolge kein Soldat ohne besondere Erlaubnis die Festung Kurland verlassen darf. Also ist Schörner jetzt OB in Kurland. Der verfolgt mich auch überall, aber die Front wird jedenfalls stehen!
••• S. 218 •••Dass man uns hier festhalten will, passt uns gar nicht. Manche von uns haben schon ihren Abstellungsbefehl für einen anderen Truppenteil. Die meisten wollen wieder zu ihrer alten Einheit, bei der sie schon jahrelang stehen. Und ich koche vor Wut über die Situation, in die ich da hineinmanövriert wurde und über Schörners eigenmächtige Handlungsweise. Wir dringen in unseren Bataillonsführer, gegen diese Zwangsrekrutierung zu protestieren. Er tut es auch – wenn man seinen Worten glauben kann – aber erfolglos. Am ersten Tag hatten wir noch beim Regimentskommandeur zu Mittag gegessen. Jetzt wird uns das Essen in unser Quartier herübergeschickt. Als wir den Bataillonsführer nochmals zu einem Vorstoß beim Regiment überreden wollten, lehnt er schroff ab mit der Begründung, er habe sich durch seine mehrfachen Vorstellungen schon den Mund verbrannt. Kurze Zeit später erzählt er beim Kartenspielen, man würde ihm im Falle seines Hierbleibens mit der Führung eines (rückwärtigen) Nachrichtenbataillons betrauen. Nun ist klar, dass er an unserer Rückkehr nicht mehr so brennend interessiert ist. Außerdem war durchgesickert, dass die Division vor allem an uns Kompanieführern interessiert ist, da ein großer Mangel an Offizieren herrscht.[2] Damit hatten auch unsere Unteroffiziere und Mannschaften wieder Hoffnung geschöpft und verstummten allmählich mit ihrer Forderung nach Rückkehr. So blieben nur wir vier Kompanieführer übrig, und wir beschlossen, die Sache in eigene Hände zu nehmen. Ich ging also auf eigene Faust mit einem Kompanieführer zu der maßgebenden Dienststelle und erbat einfach unsere Rückfahrscheine. Der diensttuende Hauptmann vertröstete uns wieder mit dem Hinweis, dass man die Antwort der Heeresgruppe abwarten müsse, der unser Fall unterbreitet worden sei. Wir versprachen ihm, sehr bald wiederzukommen und gingen hinaus. Tag um Tag verstreicht. Ich mache häufig kleine Spaziergänge, wandere ganz allein durch Busch und Feld und versuche, mich in die neue Lage hineinzufinden. Denn viel Hoffnung auf die Rückkehr nach Landsberg habe ich nun auch nicht mehr. Und diese Rückkehr in drei Wochen war der einzige Trost, den ich meiner betrübten Frau beim Abschied geben konnte. Auch ich bin bedrückt, weil ich mich nicht so schnell in die neue Lage schicken konnte, zumal sie unter so unerfreulichen Umständen zustande kam. Dieser unerwartete Zwang, plötzlich hierbleiben zu müssen, hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Wenn ich von Carola in dem Bewusstsein Abschied genommen hätte, dass ich nun nach Kurland gehe und dort bleibe, wäre es zwar auch ein schmerzlicher Abschied gewesen, aber man war seelisch darauf eingestimmt. So aber war es beinahe wie ein Schock, verschärft durch den Ärger, dass ich durch die Intrige eines Drückebergers hier hineingeraten war. Jetzt sitzen wir hier schon drei Wochen. Und Carola wartet zuhause auf meine Rückkehr.
Heute habe ich den Divisionspfarrer besucht. Wir haben uns lange unterhalten. Er schildert mir, wie die Russen bei Memel mit einem starken Keil bis an die Ostsee durchgestoßen sind und damit Kurland von Ostpreußen bzw. dem Reichsgebiet abgeschnitten haben.[3] Der Versuch, diese Klammer wieder aufzubrechen, ist gescheitert.[4] Kurland ist nur noch über die Ostsee zu erreichen. Es wurde zur Festung erklärt.[5] Die Stimmung bei der Truppe ist seit der Abschnürung etwas gesunken, aber sie ist nicht schlecht. Die Landser sind keineswegs mutlos, aber im Grunde ihres Herzens rechnen sie wohl schon ein wenig mit der Gefangenschaft. Kürzlich ging ich an einem Bauernhof vorbei, auf dem gerade zwei Landser Heu abluden. Da hörte ich den einen zu seinem Kameraden sagen: „Wir sehen die Heimat nicht wieder.“ Er sagte es sehr laut, vielleicht in der Hoffnung, dass ich die Bemerkung aufgreifen und ihm etwas Neues über die Lage sagen würde, denn als Offizier wüsste ich ja sicher mehr als die Landser. Die Äußerungen eines Offiziers hatten immer noch Gewicht. Aber ich wusste ja selbst nichts. So ähnlich wie der Landser denkt auch der Geistliche. In aller Ruhe schließt er seinen Bericht: „... und wenn es uns nicht gelingt, dann tippeln wir eben in die Gefangenschaft!“ Aber da ist keine Angst oder Fatalismus, sondern gesunder Realismus mit einem Schuss Galgenhumor. Dass man noch nicht das Gefühl hatte, in einer Mausefalle zu sitzen, lag nur daran, dass die Verbindung über die Ostsee noch offen, wenn auch gefährdet war.
Soeben marschiert eine Abteilung schwerer Artillerie vorbei. Wir wechseln einige Worte mit einem Feldwebel. Er ist Berliner und sagt, dass sie von der Halbinsel Sworbe kommen.[6] Sworbe ist der südlichste Zipfel der Insel Ösel und das einzige Stück Boden, das wir dort noch halten. Der Russe greift mit erbitterter Wut an. Unsere Front geht Schritt für Schritt langsam zurück, ••• S. 219 •••damit das Übersetzen der Truppen aufs Festland geordnet erfolgen kann. Dabei ist der schwere Kreuzer „Prinz Eugen“ mit seinen großkalibrigen Geschützen für unsere Truppen eine unschätzbare Hilfe. Das Tempo des Rückzuges bestimmen wir. Die Front hält zusammen, aber die Verluste auf beiden Seiten sind enorm.
Die Tage sind furchtbar langweilig. Ich gehe viel spazieren, meist allein, zuweilen mit Kameraden. Wir schlendern durch das Dorf, besuchen einen Flak-Divisionsstab[7], beobachten einen Fesselballon, der wie eine pralle Wurst am blauen Himmel steht und die Nordküste überwacht. Unser Bataillonsführer spielt den ganzen Tag Karten. Manchmal waren die Tage so langweilig, dass sogar ich zuweilen versucht habe, das Kartenspielen zu erlernen.
Heute habe ich in der Schreibstube einen langen Brief an Carola geschrieben, in dem ich ihr mitteilte, dass wir wohl endgültig hier festgehalten würden. Die Unteroffiziere und Mannschaften unseres Marschbataillons sind nämlich heute abgereist. Sie kehren ins Reich zurück.[8] Wir Offiziere dagegen sind „zur vorläufigen Dienstleistung“ auf die Bataillone des Feldersatzregiments verteilt worden.
Ich habe ein Einzelzimmer in einem einstöckigen Steinhaus bezogen. Es ist ein sehr hoher Raum mit einem riesenhaften, etwa zweieinhalb Meter hohen eisernen Ofen, wie sie hierzulande üblich sind. Er ist so in die Wand gebaut, dass er mit je einer Hälfte in zwei Räumen steht und somit beide heizt. Die Feuerung erfolgt vom Flur aus. Im Nebenzimmer wohnt ein Oberleutnant, der trotz seiner 42 Jahre noch Kompanieführer ist. Offiziere sind Mangelware. Die übrigen Kameraden sind meist jüngere Offiziere in meinem Alter. Es sind durchweg liebenswürdige und sympathische Kameraden, bei denen es mir wohl gefällt.
Sonntag. Vor dem Gottesdienst ist Beichtgelegenheit. Da es sich um eine evangelische Kirche handelt, ist kein Beichtstuhl vorhanden. Daher sitzt der Geistliche hinter dem Altar. Wie ich um die Altarecke herumgehe, stutze ich doch für den Bruchteil einer Sekunde. Da sitzt ein Gefreiter in Wehrmachtsuniform, die Stola um den Hals. Also kniet der Herr Leutnant vor dem Gefreiten nieder und beichtet. So wenig gelten Rang und Schulterstücke vor dem HERRN!
Hauptamtliche Geistliche gibt es nur von der Division aufwärts. Die übrigen Geistlichen tun meist bei den Truppenteilen als Sanitäter Dienst. Welch ein Segen ging von diesen geistlichen Sanitätsdienstgraden auf den Verbandsplätzen und in den Lazaretten aus! Wie viel Trost haben sie den Verwundeten gespendet, und wie viel Seelen der Sterbenden haben sie in den Himmel gerettet! Ich denke mit Sorge an die Versuche, die Geistlichen hier durch andere Kräfte zu ersetzen. Im Ersten Weltkrieg waren nicht zuletzt die Lazarette die Brutstätten der Revolution, denn die durch die Verwundung auch seelisch labilen Soldaten waren leicht zu manipulieren. Und wenn das Pflegepersonal der Lazarette erst aus Pazifisten und Kriegsdienstverweigerern besteht, dann wird von hier aus – wie im ersten Weltkrieg – die Aufweichung des Widerstandswillens und der Kampfmoral vonstatten gehen.
Ich bin auch schon von der fixen Idee der vermutlichen Aussichtslosigkeit der Lage hier oben angesteckt, denn ich ertappe mich bei einem Stoßgebet zur Gottesmutter: „Komm zu uns, den Ärmsten der Armen in den Schützengräben der umzingelten Festung Kurland!“
Nach dem Gottesdienst lädt mich der Kompanieführer zum Frühstück ein. Außer mir sind noch zwei junge Offiziere anwesend. Es gibt einen ganzen Berg belegter Brötchen. Es war ein schöner, harmonischer Sonntagvormittag. Heute abend ist Kasinoabend. Das Regiment ist nämlich kurz vor unserer Ankunft in Dondangen aus dem Einsatz zurückgekommen, und deshalb ist alles in gehobener Stimmung.[9]
Heute ist Schießdienst. Die Schießübungen werden auf einer Wiese abgehalten. Auf dem Weg dorthin und zurück beschäftige ich mich mit einigen Angelegenheiten, die ich Carola noch mitteilen will, falls ich noch einmal zurückkehre. Denn heute kam vom Bataillon das Gerücht, dass wir fünf Offiziere doch noch nach Landsberg zurückgeschickt werden, vielleicht sogar in allernächster Zeit. Zwar weiß jeder, was von solchen Parolen zu halten ist, aber die nie ersterbende Hoffnung lebt sofort wieder auf.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ vermutlich Feld-Ausbildungs-Regiment 640
- ↑ so auch KTB HGr N vom 20.10.1944 S. 332/334
- ↑ am 9. oder 10.10. in Höhe des kleinen Hafens Polangen an der Grenze des Memellandes (9.10. bzw. 10.10. gem. Wikipedia, 10.10. gem. Key dates in Palanga history und KTB HGr N vom 10.10.1944 S. 190/196, Mitte Oktober gem. Haupt 1979 S. 18, der allerdings auf S. 23 den „Beginn der Einschließung“ auf den 13. datiert; eine dauerhafte Abtrennung bestand mit Sicherheit ab 14. (Lagekarte „Kurland in Karten“ vom 14.10.1944)
- ↑ Unternehmen „Geier“ gem. KTB HGr N vom 13.–16.10.44 (13./S. 257: Richtlinie, 15./S. 275: befohlen für 17., 16./S. 285: verschoben auf 18., S. 288: auf Ende d. 1.Kurlandschlacht)
- ↑ Hitler befahl Kurland zu halten (KTB HGr N vom 21.10.1944 S.353), das ist sinngemäß das gleiche. Eine offizielle Benennung als Festung ist nicht zu finden. Generaloberst Schörner verwendet die Bezeichnung in einer Grußadresse an Hitler (KTB HGr N vom 31.12.1944 S.344)
- ↑ Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Eine Verlegung von Truppen aus Sworbe ans Festland ist weder zu finden noch denkbar. Es gab aber eine Reihe von Verlegungen auch von sFH nach Sworbe oder innerhalb Kurlands. Einige davon mögen durch Dondangen gezogen sein.
- ↑ 6. Flak-Division
- ↑ über deren Beinahe-Untergang siehe 1.12.44
- ↑ Das Feld-Ausb.-Regt. 640 war zunächst (im Rahmen der FAD N) nach Riga und später zur 16. Armee geschickt worden (KTB HGr N vom 15.09.1944 S. 162 und vom 20.09.1944 S. 262), seine Rückkehr (nach Ablösung durch Div. „Nordland“ wohl am 22.9., vgl.KTB HGr N S.293/S.301) ist im KTB nicht vermerkt.