26. Januar 1945
GEO & MIL INFO | ||||
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Sanderi Höhe[1] | ||||
Lt Fischer KompFhr 2./410 oder 2./187? | ||||
ChdSt Foertsch wechselt zum ObKdo d. H.Gr. | OB: GenOb Dr RendulicWP (nur wenige Stunden) m.d.stellv.F.b.: Gen d Inf HilpertWP ChdGenSt: GenMaj FoertschWP,[2] |
Am nächsten Morgen wird der Bataillonsgefechtsstand aus der Mulde heraus nach rückwärts verlegt. Die Straße nach Kesteri, auf der wir hierher kamen, soll nicht mehr benutzt werden, weil angeblich Russen in dem Wald beiderseits der Straße liegen. Das wäre also direkt in unserem Rücken, wenige hundert Meter entfernt. Kein schönes Gefühl. Den Wald zu durchkämmen, scheint der Führung zwecklos. Eben höre ich, dass die Russen unsere Front an mehreren Stellen durchstoßen haben. Angesichts dieser Lage ist eine Zurücknahme der Front unvermeidlich.
Zwei Tage lagen wir hier in der Stellung Sanderi. Heute abend wird die Front zurückgenommen. Ich erhalte Befehl, meine Kompanie unter Umgehung des unsicheren Waldes hinter uns in eine neue Stellung am Südrand des Dorfes Kesteri zu führen. Dazu muss ich erst nach links eine Strecke an unserer bisherigen Front entlanglaufen und dann an einer bestimmten Stelle rechtwinklig nach rückwärts abschwenken. Dann komme ich genau bei der neuen Stellung vor Kesteri an. Um diesen Punkt, an dem wir abschwenken müssen, bei Nacht nicht zu verfehlen, schickt mir das Bataillon einen Einweiser. Der geht nun mit meinem Kompanietruppführer los, um diese Stelle jetzt bei Tage zu markieren.
Der 1. Zug meiner Kompanie ist laut Bataillonsbefehl als Nachhut eingesetzt. Er soll bis zu einer bestimmten Zeit in der Stellung bleiben und den Rückzug des Bataillons absichern. Ich gehe zu Leutnant Harms, um ihm den Befehl zu überbringen und seine Aufgabe zu besprechen.
Es ist dunkel geworden. Als die für mich festgesetzte Zeit zum Absetzen gekommen war, gebe ich Befehl zur Räumung der Stellung. Die Kompanie sammelt am Bunker des Kompanietrupps. Dann setze ich mich mit dem Kompanietruppführer an die Spitze und gebe das Zeichen zum Abmarsch.
Da dringen plötzlich abgerissene Rufe vom 1. Zug herüber. Einzelne Schüsse fallen. Dann ist wieder Ruhe. Wir setzen den Marsch fort. Auf einem kleinen Trampelpfad, der neben unseren verlassenen Stellungen herläuft, gelangen wir in den Wald. Feindwärts ist er dicht und dunkel, nach rückwärts ist er licht mit weiten, offenen Schneeflächen. Schweigend stapfen wir durch den Schnee. Hinter mir der Kompanietruppführer und die lange Reihe der Kompanie. Nun müssen wir doch bald bei der Abzweigung sein. Ein Weg ist hier nicht mehr, aber nach der Entfernung und der Uhrzeit zu urteilen, müssten wir jetzt abbiegen. Ich drehe mich zu meinem Kompanietruppführer um. Der muss es ja genau wissen, denn er hat sich ja sicher eine deutliche Markierung gemacht. Als ich ihn frage, druckst er verlegen herum und gesteht schließlich, dass er den Weg auch nicht genau wüsste. Ich denke, ich höre nicht recht. Nach einigen kurzen Fragen stellt sich heraus, dass dieser Kerl zu faul oder zu feige war, heute nachmittag bis hierher zu laufen, um die Abzweigung festzulegen. Stattdessen hat er sich die Gegend von weitem durch den Einweiser beschreiben lassen und war dann umgekehrt. Und jetzt im Halbdunkel der Winternacht erkennt er die Gegend nicht wieder. Das ist ja eine verfluchte Schweinerei! Da stehe ich nun mit meiner Kompanie inmitten eines feindverseuchten, unbekannten Waldgeländes und soll auf einem nun unbekannten Weg die neue Stellung finden! Die ganze Kompanie befindet sich jetzt in einer äußerst prekären Lage. Eine ganze Kompanie ist in Gefahr, den Russen in die Hände zu laufen, weil ein einziger pflichtvergessener Feldwebel seine Aufgabe vernachlässigt hat! Ich sammle die Kompanie kurz, um ihr unsere Lage zu erklären, wobei ich mich nicht scheue, die Schuld des Feldwebels deutlich zu machen. Der soll nun meine Stütze sein, meine rechte Hand! Auch er ist übrigens umgeschulter Luftwaffenange••• S. 246 •••höriger. Ich fauche diesen Kerl wütend an, aber davon wird unsere Lage auch nicht besser.
Also weiter! Ich versuche erst noch, mir die Lage von Kesteri aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, um die ungefähre Richtung zu haben. Zunächst aber will ich das gefährliche Waldstück, das zwischen mir und meiner neuen Stellung liegt, noch etwas weiter umgehen. Ich pirsche also zunächst in der alten Richtung weiter. Wenn wir zu weit gehen, laufen wir in die russischen Stellungen. Nach einer Weile glaube ich, dass es nun höchste Zeit ist, abzubiegen. An einer lichteren Stelle des Waldes mache ich eine scharfe Wendung und gehe nun im rechten Winkel von der bisherigen Richtung ab. Die Schneefläche ist unberührt. Kein Mensch ist hier seit langer Zeit gegangen. Wahrscheinlich sind wir schon zu weit gelaufen. Vor uns taucht ein Gehöft auf.[3] Der Kompanietruppführer, der zwanzig Meter vor mir herging, bleibt zögernd stehen. Feige ist er also auch noch. Ich gehe an ihm vorbei und nähere mich dem Gehöft, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. Es bleibt alles still. Entweder schlafen die Bewohner – es ist ja Nacht – oder der Hof ist verlassen. Ich gehe ohne Zögern an den Gebäuden vorbei und setze den Weg fort. Natürlich hätte das Haus voller Russen sein können, aber wenn ich gezögert hätte, wäre das Vertrauen der Männer in mich zum Teufel gewesen.
Nach längerem Marsch stoßen wir auf eine feste Straße. Wir machen Halt. Ich wittere nach allen Seiten und höre links Schanzgeräusche. In dieser Richtung muss auch Kesteri liegen, also gehe ich den Schanzgeräuschen entgegen und stoße bald auf eine Front schanzender Soldaten unseres Bataillons. Ich war im Niemandsland zwischen den feindlichen Fronten marschiert und kam nun von vorn, d. h. von der Feindseite her auf unsere neue Stellung zu. Erstaunlich, dass sie nicht auf mich geschossen haben. Als ich die Straße erreicht hatte, stand ich zweihundert Meter vor unserer Stellung. Ich war also nur zweihundert Meter zu spät abgebogen, worauf ich nicht wenig stolz war. Aber es hätte verdammt schief gehen können. Mein Schutzengel wird hier wohl die Führung der Kompanie übernommen haben.[4]
Ich bin genau an meinem neuen Kompanieabschnitt gelandet. Die Leute, die hier an dem Ausbau der Stellung arbeiten, sind von meinem 1. Zug. Da steht auch der Bataillonskommandeur mit einem Einweiser. Ich melde mich zur Stelle und erfahre, dass Leutnant Harms mit seiner Nachhut schon längst hier ist. Er hat seinen Posten als Nachhut kurzerhand vorzeitig verlassen und ist lange vor mir hier eingetroffen. Als ich ihn wegen seines Verhaltens zur Rede stelle, behauptet er, dass kurz nach unserem Abzug plötzlich ein starker sowjetischer Stoßtrupp auf Skiern und in weißen Tarnmänteln vor der Stellung aufgetaucht wäre und ihn angegriffen hätte, woraufhin er sich sofort hätte zurückziehen müssen. Kommentar überflüssig! Zu Kriegsbeginn hätte man solchen Kerl degradiert, aber bei dem herrschenden Offiziersmangel kann man sich das nicht mehr leisten, denn die Nachfolgenden sind zumeist auch nicht besser.
26.1.45. Stellung Kesteri. Ein kleines Kirchdorf, an drei Seiten von Wald umgeben. Die Kirche ist zerschossen, ebenso ein Teil der ohnehin nicht sehr zahlreichen Gehöfte. Durch das Dorf führt eine feste Schotterstraße. Die Stellungen meiner Kompanie laufen am ostwärtigen Ortsrand entlang. Es sind drei Abschnitte. Der linke verläuft an dem hohen Hang des Barta-Tales entlang. Die Barta ist hier nur ein großer Bach mit schmaler Talsohle, aber hohen, steilwandigen Talhängen und unübersichtlichen Schluchten. Die Stellungen hier sichern gegen die Mulde. Der mittlere Abschnitt sperrt die Straße, die geradewegs zum Iwan läuft. Hier liegt mein Kompaniegefechtsstand, etwa vierzig Meter hinter den Stellungen, in der Nähe der Straße und gleichzeitig in der Mitte des Kompanieabschnitts. Der rechte Abschnitt liegt mitten im Wald. Er ist der unübersichtlichste und deshalb vom 1. Zug besetzt, der der zahlenmäßig stärkste ist und von einem Offizier geführt wird. Letzteres ist so üblich, obgleich mir ein tüchtiger Feldwebel lieber ••• S. 247 •••wäre als dieser Offizier. Aber auch meine Feldwebel sind nicht viel besser.
Was waren unsere jungen Leutnants in der 8./477 zu Kriegsbeginn doch für schneidige Draufgänger! Wenn ich mir jetzt meinen Drückeberger ansehe, wird mir klar, dass der Krieg schon verloren ist.
Mein Kompaniegefechtsstand besteht aus zwei kleinen Bunkern, die durch einen fünf Meter langen Graben miteinander verbunden sind. In dem einen liegt der Kompanietrupp, in dem andern hause ich mit meinem Kompanietruppführer. Der Bunker sieht aus wie die meisten ihrer Art: Auf der Erde liegt eine dünne Lage Stroh, in einer Ecke liegt meine Schlafdecke, daneben der Feldfernsprecher. Auf der anderen Seite liegt der Feldwebel. Das Erdloch ist mit einer Balkenlage abgedeckt, über der noch eine Sandschicht liegt. Eine wackelige Tür hält wenigstens die härteste Kälte ab.
Ja, es ist bitterkalt.[5] Das Land liegt unter einer dicken, weißen Schneedecke, deren Millionen Kristallsternchen an den herrlich klaren Tagen wie Brillanten funkeln. Unter den Füßen aber bricht und knirscht die Schneekruste, und auf den festgetretenen Wegen quietscht er bei jedem Schritt. Unsere Tarnkleidung ist gut und warm. Deshalb ist die Kälte einigermaßen erträglich. Wir haben aber auch Tage und Nächte mit klirrendem Frost, und dann sind Erfrierungen nicht selten. Besonders schlimm ist auch, dass die Verpflegung oft eiskalt ist, wenn sie hier ankommt. Seit Tagen schon haben wir nichts Warmes mehr gegessen. Wenn die Suppe hier ausgegeben wird, ist sie schon fast kalt, obgleich sie in Thermokanistern gebracht wird. Der Kaffee ist völlig kalt. Das Brot, das die Männer nicht gleich verzehren, ist in kurzer Zeit gefroren. Und wenn sie es dann später aus dem Brotbeutel holen – es soll ja bis zum nächsten Abend reichen – ist es steinhart gefroren. Über Nacht gefriert dann alles. Wenn die Männer dann am nächsten Tag ihre Mahlzeiten halten, knabbern sie wie die Mäuse an den harten Brotkanten herum, in denen Eiskristalle glitzern. Der Kaffee in den Feldflaschen ist gefroren. Man schlägt ihn stückweise aus den Flaschen und lässt ihn im Munde zergehen. Esbitkocher gibt es zur Zeit nicht. Wer hier keinen kerngesunden Magen hat oder wenigstens äußerst vorsichtig isst, holt sich leicht ein Magenleiden.
Ich habe schon immer die Ansicht vertreten, dass jeder Vorgesetzte in bestimmten Abständen immer wieder einmal für kurze Zeit den Dienst seiner Untergebenen machen sollte. Auch höhere Truppenführer sollten mal für ein paar Tage nach vorn in den Graben kommen. Inkognito als einfacher Soldat.[6] Unsere Zahlmeister und Küchenbullen sollten jetzt zum Beispiel mal für 24 Stunden unsere derzeitige Verpflegung mitgenießen. Das soll nicht aus Bosheit geschehen, sondern nur, damit den höheren und rückwärtigen Stellen nicht der Blick für die Wirklichkeit verloren geht, was erfahrungsgemäß sehr schnell geschieht.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
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- ↑ so im Soldbuch als Ort eines Nahkampfes angegeben, bleibt unklar, was genau gemeint ist
- ↑ Eintreffen und Befehlsübernahme Rendulic gem. KTB HGr K vom 26.01.1945, 18.20 Uhr; umgehende Wegversetzung und Vetretung sowie Versetzung Foertsch gem. KTB HGr K vom 26.01.1945, 22.25 Uhr
- ↑ wohl das Gebäude nordwestlich von „Kumpe“ (Karte des westlichen Russland Blatt H 16), heute „Vītoliņi“ (Flächennutzungsplan des Kreises Rucava)
- ↑ Die Zurücknahme des vorgeschobenen Frontbogens linker Flügel 87. und 30.I.D. in diese „Krimhilde-Stellung“ war um 22.55 Uhr abgeschlossen (KTB HGr K vom 26.01.1945, vgl. Lagekarte OKW LageOstKurland24Jan45)
- ↑ bis –25°C (KTB HGr K vom 26.01.1945 S. 235)
- ↑ Dies hat die Nationale Volksarmee – übrigens nach chinesischem Vorbild – ab 1959 versucht und aufgrund vielschichtiger Probleme – darunter Einschränkung der Gefechtsbereitschaft – 1960 bereits wieder aufgegeben. Die Grundidee steckt auch in der Fernsehserie „Undercover Boss“.