VII.

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Inhaltsverzeichnis

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English

VII. Gedankensplitter und Betrachtungen während der Gefangenschaft

••• S. 352 •••Krieg. Jetzt grassiert wieder die Parole: Nie wieder Krieg! Wie schön das klingt. Vor 20 Jahren, gleich nach dem 1. Weltkrieg, habe ich dieses Schlagwort schon einmal gehört. Und nur 20 Jahre später sind wir in den 2. Weltkrieg gezogen. So schnell ändert sich das. Man kann diesen naiven Friedensschwärmern nur entgegenhalten, was Moltke einmal einem schweizerischen Völkerkundler geschrieben hat: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.“[1] Auch Heraklit nennt den Krieg den Vater aller Dinge, der positiven und negativen.[2] Und genauso ist es. – Der Krieg schafft viele Übelstände, aber er beseitigt auch andere. Er bringt die durch allzu langen Wohlstand verwöhnte, verweichlichte, verrottete und versumpfte menschliche Gesellschaft wieder zur Besinnung. Zahllose Kulturen sind schon an ihrem Wohlstand zugrunde gegangen, weil niemand mehr arbeiten oder dienen, sondern nur noch genießen wollte.

Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.[3] Das gilt für den Einzelnen und für ganze Völker. Und deshalb wird es immer Kriege geben, weil das Böse auch in der Welt ist. Wer diese Tatsache nicht einsehen will, ist blind. Die Geschichte führt es uns doch täglich vor Augen! Aber man ist doch noch lange kein Befürworter des Krieges, nur weil man weiß, dass der Krieg ein unvermeidliches Übel ist!

••• S. Nachtrag auf beigelegtem Blatt •••Der Krieg zerstört Menschenleben und Sachwerte. Aber der Frieden, in dem wir heute leben, zerstört alle sittlichen und moralischen Werte. Und das ist sehr viel schlimmer. Menschenwürde ist wertvoller, als Menschenleben.[4] Die Ursache des Untergangs von Athen und Rom in ihrer Verweichlichung, Völlerei und Prasserei zu suchen, ist zwar nicht falsch, aber nur oberflächliches Spießerdenken. Athen und Rom gingen unter, weil sie ihre nationale Würde und ihre Kultur verloren hatten. Weil sie nicht mehr bereit waren, für ihre Würde und ihre Kultur Opfer zu bringen und sie zu verteidigen, notfalls mit Krieg und Menschenleben. Auch Jesu Worte ‚Wer sein Leben liebt, wird es verlieren!‘[5] kann so gedeutet werden, dass derjenige, der sein Leben höher einschätzt, als sittliche Werte, untergehen wird. Ein Krieg gegen Unmoral und Unkultur hat größere Berechtigung, als ein Pazifismus, unter dessen Deckmantel Lebensgier, Zuchtlosigkeit und andere Laster blühen. Die pazifistische These, dass das Leben das höchste Gut sei, ist grundfalsch. Sonst gäbe es keine Helden und Heiligen und keine Märtyrer!

Warum ist so viel Leid auf der Welt? Diese Frage braucht sich der Christ nicht zu stellen.[6] Leid ist nicht immer Strafe. Unverschuldetes Leid ist Gnade. Christus hat uns durch sein blutiges Leiden erlöst. Warum er diesen Weg wählte, müssen wir seiner Allwissenheit überlassen. Wir können nur glauben. Glauben (können) ist eine Gnade. Oder wollen wir uns anmaßen, mit unserem Spatzengehirn Gottes Pläne zu erkennen oder gar zu beurteilen? Wer Gott nur solange anerkennt, wie er von IHM Gutes erlangt, und IHM den Rücken kehrt, sobald ER ihm Prüfungen auferlegt, hat das Wesen des Christentums nicht begriffen. Christi Leben war Opfer, Opferung eines Lebens für andere. Gott hat selbst seinen Getreuen auf dieser Erde kein Paradies versprochen, sondern nur Kreuztragen. Wer sein Kreuz nur unwillig trägt, und immer nur fragt: „Warum gerade ich?“, ist ein schlechter Christ. Haben sie mich verfolgt, werden sie auch euch verfolgen.[7] Das ist unser Christenlos. Aus Leid und Tod wird auch Neues geboren. Es ist ein Naturgesetz. Wenn das Samenkorn nicht stirbt, bringt es keine neue Frucht.[8] Menschliches Leben wird unter Schmerzen geboren. Warum das so ist? Es gibt vieles auf der Welt, was unser Begriffsvermögen übersteigt.

Unsere jetzige Trennung ist hart. Ich liege hier, gefangen und untätig. Zuhause aber muss Carola, falls sie noch lebt, alle Last und Sorge für die Familie allein tragen. Arme, liebe, tapfere Frau! Auch Deine Treue wird auf eine harte Probe gestellt. Die Gottesmutter möge dir helfen. Mir fallen die Worte der gefangenen Gudrun ein, als man ihr Gerüchte über die angebliche Untreue ihres Mannes zuflüstert: „Und wenn ich es mit eigenen Augen sähe – mein Herz sieht es nicht!“ Welch erschütternde Größe, Liebe und Treue – vielleicht gibt es so etwas wirklich.[9] Aber meist geht der reine Idealist in dieser Welt zugrunde. Aus reinem Gold prägt man keine Münzen.

Ich habe einem Erfolgsmenschen hinter die Kulissen geguckt. Das hat meiner Arglosigkeit wieder einen Stoß versetzt. Mir liegt diese Art des Vorwärtskommens durch Intrigen, Bluff und Manipulationen „an der Grenze der Legalität“ nicht. Mir fehlt dazu sowohl die Fähigkeit, solche Gelegenheiten zu erkennen, als auch die Leichtfertigkeit, sie auszuführen. Ich will es auch nicht, weil es meinem Charakter und meiner Weltanschauung widerspricht. Als es galt, die Langeweile des Lagerlebens durch irgendeine Beschäftigung zu vertreiben, habe ich getan, was mich innerlich bereichert. Andere haben getan, was ihnen praktischen Nutzen brachte. Während ich mir theologische Debatten anhörte, haben andere bei einem Arbeitskommando außerhalb des Lagers sich zusätzliche Esswaren verschafft. Sicher habe auch ich auf diesem Gebiet, der Not gehorchend, manches gelernt und getan, aber ich bin immerwieder erstaunt über die Findigkeit und Fuchsschläue mancher Menschen. Man nennt sie clever, aber ich kann sie nicht leiden. Aber sie kommen leichter durch diese Welt. Wer sich keinem Gott und keinem Gewissen verpflichtet fühlt, wer ohne Rechts- und Verantwortungsgefühl nur nach seinem Vorteil strebt, lebt leichter. Daher sind die gläubigen und gewissenhaften ••• S. 353 •••Menschen oft im Nachteil. Die wertvolleren Menschen, denen das Missverhältnis zwischen ihrer inneren Welt und der äußeren, in der sie leben müssen, zur Tragik wird, weil ihr reineres Wollen und ihre bessere Einsicht an der Schlechtigkeit dieser Welt scheitert. Der beste Beweis ist das Leben Jesu. Es ist die erschütternde Tragödie eines reinen, göttlichen Menschen, der in diese unvollkommene Welt geworfen wird. Er wird getötet. Ein ähnliches Schicksal ist allen wahren Christen auf dieser Welt beschieden. Ihre Weltanschauung gestattet ihnen nicht, die skrupellosen Methoden dieser Welt mitzumachen, und deshalb werden sie immer gegenüber den Kindern dieser Welt im Nachteil sein. Es ist wahr, dass wirtschaftliche Initiativen seltener von Katholiken ausgehen, dass die katholischen Länder zu den ärmeren der Welt gehören, dass der Prozentsatz der Katholiken in gehobenen Positionen geringer ist, als er der Gesamtzahl der Bevölkerung entspricht. Und man sieht den Grund dafür in der antimaterialistischen Weltanschauung.

Was uns Schrödters betrifft, so sind wir nie Glücksritter gewesen. Alles, was wir sind und haben, ist in ehrlicher, harter Arbeit aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe erarbeitet worden. Gottes Hilfe ausgenommen. Mein Vater erreichte es durch eiserne Energie und ungewöhnlich zähe Arbeitskraft; ich selbst durch unermüdlichen Fleiß und Sparsamkeit; mein Bruder durch zielstrebigen Fleiß unter den besonders schwierigen Verhältnissen der Nachkriegszeit.

Wie vergänglich Geld und Gut sind, habe ich schon zweimal in meinem Leben am eigenen Leibe erfahren. Zwei verlorene Kriege und eine Inflation haben unsere Familie ebenso wie das ganze Volk um unseren gesamten materiellen Besitz gebracht. Als Carola im Januar 1945 vor den Russen aus Cammin fliehen musste, kam sie bei ihrer Schwester in Warendorf an mit einem Rucksack auf dem Rücken und an jeder Hand ein Kind. Das war alles, was wir noch besaßen. Dauerhaft und unverlierbar ist nur ein anständiger Charakter, eine gute Erziehung und eine gediegene Berufsausbildung.

Ich weiß wohl, dass jede Kultur auch einer gewissen materiellen Grundlage bedarf; dass auch Bildung und gute Erziehung meist nicht ohne Geld zu haben sind. Ich verachte auch das Geld keineswegs. Aber ich verachte eine Anschauung, die den Sinn des Lebens allein im Genuss und im Geldverdienen sieht. Diese geldgierigen Verdienernaturen, diese egoistischen Raffkes sind mir im Innersten zuwider.

Um das Verschwinden der Nazis ist es nicht schade. Sie haben das deutsche Volk tyrannisiert. Sie rüttelten an den Grundfesten der Ehe („Hegehöfe“), sie zerrütteten die Familien (Jugenderziehung in Lagern, Aufhetzung zur Denunziation der Eltern), sie demütigten die Erwachsenen vor der Jugend (Machtstellung der HJ-Führer), sie machten die Mädchen zu Mannweibern (Gepäckmärsche), sie bekämpften durch Druck und Tricks die Religionsausübung und den Gottesdienstbesuch (eigene Erfahrung[10]), sie beschimpften und verunglimpften alle kulturtragenden Schichten (Adel, Geistlichkeit, Intelligenz, Bürgertum), sie behinderten viele sinnvolle Arbeit durch sinnlosen Parteidienst (Herumsitzen in Kneipen, „Sturmlokalen“), sie predigten den Hass („Unsere Religion ist der Hass!“), sie zwangen zum Abonnement nazistischer Zeitungen, Eintritt in Nazi-Organisationen. Sie ermordeten missliebige Persönlichkeiten (Klausener u.a.). Sie verhafteten willkürlich. Jeder kleine PG (Parteigenosse) maßte sich Polizeigewalt an. Sie sprachen Recht unter Parteigesichtspunkten. Das Volk war so eingeschüchtert, dass es nicht zu sagen wagte.

Man muss allerdings zugeben, dass die Nazis wenigstens zu Beginn ihrer Herrschaft einer Reihe durchaus vernünftige Regierungsziele verfolgten, die auch die ehrliche Zustimmung des Volkes erhielten. Die Art und Weise, mit der die Nazis das Volk regierten, war eine psychologische Meisterleistung. Sie haben es verstanden, die anständigen Charaktereigenschaften des deutschen Volkes (und ihre Schwächen!) geschickt anzusprechen und ihre Gefühle zu mobilisieren. Was dagegen beim Volk Missbilligung hervorgerufen hätte, wurde oft verschwiegen. Von der heimlichen Massenausrottung der Juden wussten nur wenige. Man konnte es höchstens ahnen. Es ist verblüffend, mit welcher Virtuosität Göbbels das Volk manipulierte, obgleich jedes Kind seine haarsträubende Verlogenheit kannte. Wenn man dem Volk oft genug eine Lüge vorsetzt, wird sie schließlich doch geglaubt. Das geht besonders leicht bei dem gutgläubigen und politisch etwas instinktlosen Deutschen.

Man wird heute manchmal gefragt, warum die Deutschen sich dieses Naziregime haben gefallen lassen. Nun:

••• S. 354 •••1. Wer so fragt, kennt die Methoden einer Diktatur offenbar nicht. Diejenigen, die dieses System stürzen wollten, hatten einfach nicht die Möglichkeit. Die Macht des Staatsapparates war allgegenwärtig und übermächtig.

2. Ein Großteil der Bevölkerung hatte gar nicht die Absicht, Hitler[11] zu stürzen. Sie haben ihn mit überwältigender Mehrheit gewählt und waren – wenigstens in den ersten Jahren – mit seinen Zielen durchaus einverstanden. Sie waren begeistert.

Und wer sagt, das Volk habe sich von diesem Rattenfänger blenden lassen, der möge sich einmal ansehen, mit welch hysterischer Begeisterung unsere heutige Jugend die Pop-Sänger anhimmelt oder den religiösen Sektenführern (bzw. Rattenfängern) nachläuft. Unser Volk ist eben leider leicht zu beeinflussen.

Eines muss ich aber leider noch hinzufügen: Alle Anschuldigungen, die ich oben gegen die Nazis erhoben habe, könnte man mit leichten Abwandlungen ebenso vielen heutigen demokratischen Regierungen – die beiden deutschen nicht ausgenommen – vorwerfen. Der Unterschied liegt nur in den Methoden: Zerstörung von Ehe und Familie, übermäßige Hofierung der Jugend, Angleichung der Frauen an die Männerwelt, Aufweichung kirchlicher Strukturen. Die Rolle der damaligen „Deutschen Christen“ übernehmen heute die Jugendsekten. Die damalige politische Verführung der Jugend ist einer sexuellen, kriminellen und der durch Drogen erfolgten Verführung gewichen. Politisch Missliebige werden heute zwar nicht erschossen, aber man nimmt sie durch behördliche Vernehmungen derart in die Mangel, dass sie Selbstmord begehen, weil sie dieser psychologischen Belastung nicht mehr gewachsen waren. Und Psychoterror ist heute Gang und Gäbe. Wer damals etwas Freundliches über die Juden sagte, wurde eingesperrt. Der heute etwas Unfreundliches gegen die Juden sagt, wird auch eingesperrt. Wo ist da ein Unterschied? Ist das das Recht der freien Meinungsäußerung?

Man sehe sich nur diese Antifa an! Ihre Ideologie ist zwar antifaschistisch, aber ihre Methoden sind dieselben, wenn nicht schlimmer, die der Hitlerfaschismus anwandte! Dieselbe Machtgier, Gewaltherrschaft, Zensur, brutale Unterdrückung, derselbe Gesinnungsterror. Vielleicht ist es müßig, über solche Dinge überhaupt noch ein Wort zu verlieren.

Ein großer Teil des Volkes ist unverständig und ohne eigene Urteilsfähigkeit. Die Masse muss gesteuert werden. Eine Regierung, die sich von jedem Grünschnabel in ihrer Arbeit dreinreden lässt, bescheinigt sich selbst ihre Unfähigkeit. Das Volk muss geführt werden. Aber diese Führung muss sich an den berechtigten Interessen der Nation orientieren und darf nicht in Gewaltherrschaft ausarten. Vor allem muss die Führung qualifiziert sein. Wohl liegt der Hang zum Ordnen, Systematisieren und Organisieren in unserem Wesen. Aber staatsmännisches Denken und diplomatisches Geschick liegen uns nicht. Der Deutsche ist kein Diplomat. Er ist ein tüchtiger Arbeiter. Er ist leicht zu führen und zu manipulieren. Aber Führerpersönlichkeiten mit staatsmännischen Qualitäten von internationalem Rang bringen wir nur alle Jahrhunderte nur einmal hervor, seltener als in anderen Ländern. In fremden Ländern bewegen wir uns wie der Elefant im Porzellanladen, gleichgültig, ob es sich um einen Staatsmann (Ribbentrop vor dem englischen König![12]), um die Nazibonzen im Ausland, oder um deutsche Touristen im Ausland handelt. Kein Wunder, dass wir im Ausland wenig Freunde haben. Unsere Erzeugnisse schätzt man, uns selbst nicht. Eine schlechte Eigenschaft ist auch, dass wir immer von einem Extrem ins andere fallen. Haben wir eine Demokratie, dann artet die parlamentarische Regierungsarbeit meist in Parteiengezänk aus. Die engstirnigen Politiker denken nicht über ihre Partei-Interessen hinaus. Richtschnur ihres Handelns ist nicht das Wohl des Staates, sondern die Frage: wie kann ich mir und meiner Partei die Wählerstimmen erhalten. Erwacht aber wirklich mal der Gedanke der Reichseinheit – wie unter Hitler – dann wird er völlig übersteigert. Wir überspannen alles. Aus einem Parteiprogramm machen wir eine Weltanschauung, aus der Vererbungs- und Rassenlehre eine Religion. Typisch ist auch das Verhalten gegenüber den Juden. Auch in anderen Völkern sind die Juden nicht beliebt, und es kam gelegentlich sogar zu Pogromen. Aber die Deutschen haben diese Abneigung zu einer Vernichtungsaktion ausgebaut. Das ist ein typisches Beispiel deutscher Gründlichkeit. Diese Gründlichkeit geht so weit, dass bei einem Regierungswechsel sogar die Farbe der Briefkästen geändert wird! Im Kaiserreich waren sie blau, in Weimar gelb[13], bei den Nazis rot, heute wieder gelb. Es ist geradezu lächerlich.

••• S. 355 •••Wie ein roter Faden zieht sich durch die unglücklichen Ereignisse der deutschen Geschichte eine ihrer Ursachen: Die deutsche Zwietracht und Eigenbrötelei. Schon die Römer nutzten die Eigenwilligkeit der germanischen Stämme aus und ließen sie gegeneinander kämpfen. Dasselbe tat Frankreich später mit seiner Rheinbundpolitik. Während Frankreich als geeinte Nation unter zentralistischer Führung Großmachtpolitik betrieb und England sich ein Weltreich aufzubauen begann, zerstritten sich die Deutschen mit egoistischen Fürsteninteressen, Kleinstaaterei und Lokalpatriotismus. Und auch heute ist Deutschland wieder in ein Dutzend Länder zerstückelt, deren Regierungen von den unterschiedlichsten Interessen beherrscht werden. Diese Zerteilung ist uns zwar mehr oder weniger aufgezwungen worden,[14] aber sie wurde auch akzeptiert, weil sie dem deutschen Wesen entgegen kam. Armes, dummes Deutschland! Wie mächtig könntest du sein, wenn die deutschsprachigen Völker alle einig wären! Aber Schiller hat wohl recht, wenn er den Deutschen in den „Xenien“ rät: „Zur Nation euch zu bilden, Deutsche, hofft ihr vergebens. Bildet – ihr könnt es – dafür freier zu Menschen euch aus.“[15] Dazu erlaube ich mir hinzuzufügen, dass uns die Freiheit, die wir heute genießen, schwere Schäden gebracht hat, weil wir in typisch deutscher Manier diese Freiheit wieder maßlos übertrieben haben. Wie viele Vergehen und Verbrechen werden heute bei uns im Namen der Freiheit oder unter dem Deckmantel der Freiheit verübt und geduldet! Unseren heutigen maßgeblichen Politikern scheint das nicht bewusst zu werden. Woher auch sollten sie die Fähigkeiten dazu besitzen? Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Staatsführer ein Plakatmaler und der Außenminister ein Weinhändler war. In Weimar war der erste Mann im Staat ein Sattlermeister[16], und heute ist es der uneheliche Sohn einer Waschfrau[17]. Natürlich sind schon des öfteren geniale Staatsmänner aus kleinsten sozialen Verhältnissen hervorgegangen. Aber das sind Ausnahmen. Es ist kaum anzunehmen, dass ausgerechnet das politisch so unbegabte Volk der Deutschen solche Begabungen am laufenden Band hervorbringt, zumal wir heute ein Dutzend Regierungschefs und hunderte von Ministern herumlaufen haben. Nur vereinzelt finden sich unter ihnen politische oder gewisse staatsmännische Begabungen. Die meisten unserer heutigen Führer und „Verantwortlichen“ sind mittelmäßige oder kleinkarierte Aufsteiger aus den Gewerkschaften mit bestürzend engem geschichtlichen Horizont. Und selbst wenn sie (von der Partei!) zum Doktor h. c. oder zum Professor hochgejubelt werden, bleiben sie doch ohne Format und politischen Weitblick. Wirklich groß ist an vielen von ihnen nur ihre Profilierungssucht, ihre aufgeblasene Eitelkeit und die Unverschämtheit, mit der sie sich selbst aus der Staatskasse, sprich Steuergeldern der Bevölkerung bedienen.

Und das Volk? Sie murren, aber sie lassen sich alles gefallen. Ein Franzose sagte mir einmal: „Die Deutschen müssen geführt werden.“ Er hat recht, und sie lassen sich auch leicht führen – wie damals bei Hitler. Die Masse hat eben keine eigene Meinung. Besonders der heutige Mensch hat ja kaum noch Zeit und Muße, über die Welt und über sich nachzudenken und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Für viele Menschen haben Presse und Rundfunk die Meinungsbildung übernommen. Der angeblich so fortschrittliche Mensch des 20. Jahrhunderts wird immer mehr manipuliert, verplant, registriert und nummeriert. Und das Unbegreifliche ist, dass er es gar nicht merkt. Tatsächlich arbeitet die Wirtschaftswerbung, die politische Agitation, die Presse und das Fernsehen heute mit derart raffinierten psychologischen Methoden, dass man schon Fachmann sein muss, um ihre Meinungsmache zu erkennen.

Der Deutsche ist unfähig, einen vernünftigen Mittelweg zu gehen. Eines der Musterbeispiele bleibt sein Verhältnis zu den Juden. Unter den Nazis wurden sie vernichtet, heute werden sie durch gesetzliche Vorzugsregelungen besonders geschützt. Ein ähnliches Beispiel bildet die Rassentheorie. Die Nazis haben die ganz natürlichen Wesensunterschiede zwischen den einzelnen Rassen derart überspitzt, dass sie einerseits die nordische Rasse zur Herrenmenschen hochstilisierten, und andererseits andere Völker zu Untermenschen abqualifizierten. Er schafft immer Extreme. Heute – wiederum eine Reaktion ins Extreme – will die linke Ideologie überhaupt keine Unterschiede mehr gelten lassen und holt die alte blödsinnige These von der Gleichheit aller Menschen aus der Mottenkiste. Diesen Irrsinn bringen unsere verspäteten Aufklärer zielstrebig unters Volk: Sie fördern die Eingliederung sämtlicher eingewanderten Ausländer und machen damit unser Volk zu einer Promenadenmischung. Sie sagen: Gebt allen Kindern die ••• S. 356 •••gleichen Bildungschancen, und sie werden alle gleich klug. Sie deklamieren: „Ein bisschen Türkenblut tut den Berlinern gut!“

Jeder Tierzüchter weiß, dass es gute und schlechte Rassen mit erheblichen Wesensunterschieden gibt. Dasselbe gilt für die Menschenrassen, ebenso für die einzelnen Menschen. Nur unsere neuen marxistischen Gleichmacher wollen es in ihrer ideologischen Verbohrtheit und Dummheit nicht sehen. Und da, wo die Begabungsunterschiede zwischen Menschen nicht zu übersehen sind, behaupten sie, sie seien nur durch die besseren Bildungsmöglichkeiten der besitzenden Klasse entstanden. Sie bekämpfen alles, was über den Durchschnitt hinausragt. Sie vertreten den Geist des Minderwertigen. Der Neid ist ihre Weltanschauung, und der Hass die Triebfeder ihres Handelns. Diese engbrüstigen „Demokraten“ mit ihrem Zwergenneid, der nichts über sich dulden will, der alles eifersüchtig bekämpft, was über ihn hinauswächst, der alles ablehnt und für Unsinn erklärt, was er mit seinem beschränkten Verstand nicht begreift. Diese Sorte ist wertlos für die Entwicklung der Menschheit. Auf sie könnte man die Worte Hölderlins anwenden: „Man frage nicht, was ihr wollt... ihr Knechte und Barbaren. Euch will man auch nicht bessern, denn es ist umsonst. Man will nur dafür sorgen, dass ihr dem Siegeslauf der Menschheit aus dem Wege geht!“[18]

Die Vielfältigkeit der Menschen lässt sich nicht hinwegleugnen. Die Menschen sind nicht alle gleich. Es gibt anständige und charakterlose, dumme und kluge, faule und fleißige. So entwickeln sich allmählich Leistungs- und Bildungsunterschiede und soziale Schichten. Es bildet sich eine wirtschaftliche, kulturelle, eine geistige Führungsschicht mit weiterem Horizont und größerem Wissen. Sie steht auf einem höheren Niveau. Diese Schichten sind die Träger der Nation. Es ist nur eine kleine Schicht, denn das Kostbare ist selten. Es sind ja immer nur wenige, die die Masse führen. Auch Energie ist eine Qualität, die zu Führungspositionen aufsteigen lässt. Aber wenn sich Energie oder Intelligenz mit Charakterlosigkeit paaren, dann wird aus dem Führer ein Verführer. Das Volk läuft immer dem nach, der am geschicktesten flöten kann. Es plappert wie ein Papagei die Parolen nach, die die Führung und die Massenmedien ihm vorsagen.

Auch die einfachsten Handarbeiter sind notwendig. Kein Mensch wird ihnen und ihrem Beruf die Anerkennung versagen oder ihre Leistungen geringschätzen. Aber die schöpferischen Kräfte liegen im Geistigen. Sie haben Vorrang, denn sie schaffen erst die Voraussetzungen für Technik und bessere Lebensbedingungen. Geistige Leistungen sind auch schwerer zu erringen. Deshalb sind geistige Berufe höher zu bewerten und auch besser zu entlohnen. Es brauchen keine wissenschaftlichen Tätigkeiten zu sein. Auch jede Führungskraft oder leitende Position im Wirtschaftsleben erfordert ja höherwertige Qualifikation und gehört somit zu den tragenden Kräften eines Volkes. Wenn Sozialismus Gerechtigkeit bedeutet, dann ist seine Aufgabe nicht die gleichmäßige, sondern die gerechte Verteilung der Güter dieses Lebens. „Begrabt nicht Gott und die Natur unter der Phrase von der Gleichheit aller Menschen, sondern gebt denen, die höhere Art und Bildung und größere Fähigkeiten haben, mehr Raum und Mittel zur Schaffung höherer Werte und Güter. Und überlasst nicht dem Pöbel das Urteil über das, was gut und recht ist.“ (Wer hat das gesagt?[19])

Auch den Parvenüs, diesen halbgebildeten Emporkömmlingen, haften lebenslänglich die Vorurteile an, die sie aus ihrem Milieu mitbringen. Vorurteile, die sie mit der Muttermilch eingesogen haben, mit denen sie aufgewachsen sind und die sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr los werden (Napoleon, Hitler und viele andere).

Zuweilen packt mich die Wut, wenn ich daran denke, dass asiatische Steppenhorden unsere Heimat und meine Wohnung ausgeplündert und verwüstet haben. Auch die Amerikaner haben stellenweise wie die Rowdys gehaust und gestohlen. Aber nirgends sind ganze Provinzen so restlos ausgeplündert worden, wie die von den Sowjets besetzten Gebiete. Kameraden berichten von ganzen Schiffsladungen mit Möbeln, Klavieren u. a., die in Libau und Windau aus Ostpreußen eintrafen. Ich selbst habe neben den Bahngleisen in Russland ganze Fabrikausrüstungen, Werkzeugmaschinen gesehen, die von den Waggons zur Seite gekippt worden waren und nun neben den Schienen liegen und unbeachtet still vor sich hin rosten. Dass in manchen Städten ganze Straßenzüge systematisch ausgeplündert wurden, dass sowjetische Offiziere sämtliche Teppiche aus den Wohnungen holten, dass ein Iwan ein ganzes Beutelchen mit gestohlenen Trau••• S. 357 •••ringen bei sich trug, dass man Leuten mit Kneifzangen die Goldkronen herausgerissen hat, ist sogar noch die weniger verbrecherische Seite. Immerhin ist es völkerrechtswidriger Raub. Schlimmer sind die grauenhaften Brutalitäten, die massenhaften Vergewaltigungen, die Leiden der ostdeutschen Bevölkerung auf der Flucht im eisigen Winter.

Aber dabei taucht neben dem Zorn auch das Wissen um das Böse im Menschen und die Unzulänglichkeiten dieser Welt auf. Und der Glaube an Gottes Fügung. Es geschieht nichts ohne Gottes Wissen und Willen. Die Frage, warum Gott solche Grausamkeiten an unschuldigen Menschen zulässt, ist falsch gestellt. Ebenso falsch ist die Behauptung, dass es keinen Gott geben könne, wenn so etwas geschehen kann. Man sollte lieber fragen, ob wir diese Züchtigungen nicht selbst verschuldet haben. Waren die Menschen wirklich immer so brav? Vielleicht ist es die Strafe für tausendfache Beleidigungen Gottes? Dass dafür auch Unschuldige leiden müssen, ist uns oft genug in der Bibel angedroht. Warum haben wir nicht darauf gehört? Außerdem geschieht es auch heute noch täglich, dass Unschuldige wegen der Verbrechen anderer leiden müssen, ohne dass unsere Obrigkeit sich sonderlich um diese unschuldigen Opfer kümmert, z. B. die Hinterbliebenen von Ermordeten, Ausgeraubten, Entführten und vielen anderen.[20] Warum wird Gott eines Verhaltens beschuldigt, dessen wir uns selbst jeden Tag schuldig machen? – Die pausenlosen Gotteslästerungen der Nazis mussten einmal ein Strafgericht heraufbeschwören. Das war mir schon während des Krieges klar geworden. Aber alle diese Argumente sind zu menschlich und zu primitiv gesehen. Wir kennen Gottes Gedanken nicht und wären auch nicht fähig, sie zu begreifen.[21]

Es gibt Menschen, zu denen jede Beziehung geradezu verhängnisvoll wird. Umgang mit schlechten „Freunden“ hat schon viele zu Fall gebracht. Man hält sie sich am besten vom Leibe, aber es gehört oft Zivilcourage dazu.

Wieviel Völkermorde (Indianer Amerikas, Mongolen Sibiriens, Juden Europas), wieviele Kriege, Bürgerkriege, Guerilla- und Untergrundkämpfe, Morde und Verbrechen aller Art hat es in der jüngsten Geschichte schon gegeben! Auch in den sog. Kulturländern Europas und in unserem 20. Jahrhundert, dass sich das Jahrhundert des Fortschritts nennt! Und dieses Jahrhundert der Rekordkriminalität wagt es, das Mittelalter finster zu nennen und die Inquisition zu verurteilen!

Nach leninistischer Auffassung ist der einzig gerechte Krieg der des Proletariats gegen die imperialistischen und kapitalistischen Ausbeuter der Menschheit.[22] Da aber alle nichtkommunistischen Staaten kapitalistisch sind, ist jeder Krieg der Sowjetunion – auch der Angriffskrieg – gegen bürgerliche und rechtsautoritäre Staaten gerecht. So einfach ist das! Aber das ist durchaus ernst zu nehmen, denn der Russe ist von seiner missionarischen Idee, die unterdrückten Völker der Erde zu befreien, genauso überzeugt, wie der Amerikaner es für seine Mission hält, für die Freiheit der freien Welt einzutreten.

Auch auf diplomatischem Parkett behauptet sich der Russe mit der den asiatischen Rassen eigenen Geschicklichkeit gegen seine westlichen Gegenspieler und sogar gegen die diplomatisch sehr versierten Franzosen. Der Westen macht den Fehler, dass er bei seiner Taktik gegenüber den Russen immer meint, dass der Russe in denselben westlichen Denkkategorien denkt. Aber das tut der eben nicht, und so kommt es zu Fehleinschätzungen und Fehlschlägen. Wir müssen endlich von der naiven Vorstellung abkommen, dass der Russe doch auch ein Mensch sei, wie wir, und dass man mit ihm verhandeln und Verträge schließen könne. Natürlich ist der Russe ein Mensch, aber nicht wie wir. Im Gegenteil, er ist radikal anders. Und Verträge hält der nur so lange, wie sie im Vorteile bringen. (Oder hat er etwa die in Helsinki unterschriebenen Menschenrechtsvereinbarungen[23] eingehalten? Und vieles andere?) Aber selbst wenn er Verträge bricht, macht er es auf sehr subtile Art. Der Westen ist der russischen Schlitzohrigkeit nicht gewachsen.

Im Offizier-Lager Windau häufen sich die Kameradendiebstähle. Offiziere stehlen, lügen und pöbeln sich an. Kürzlich musste einer nach einer Schlägerei ins Revier eingeliefert werden. Sie betrügen sich um ein Scheibchen Brot oder ein paar Kartoffeln, und für eine Wassersuppe erniedrigen sie sich zu Speichelleckern beim Küchenpersonal oder zu Denunzianten beim Russen. Ihr Bauch ist ihr Gott, und für den opfern sie ihre Menschenwürde. Churchills Charakteristik der Deutschen trifft den Nagel auf den Kopf: „...Überheblich im Sieg und ••• S. 358 •••ohne Rückgrat in der Niederlage.“[24] Ich will nicht das ganze Offizierkorps diffamieren. Die Mehrzahl ist immer noch anständig, aber die Vorfälle sind beschämend. Es gibt viele Gründe: Der Egoismus, durch den Hunger ausgelöst; die durch die Enge bedrohte Intimsphäre, die Aggressionen auslöst; die ungehobelten Charaktere unqualifizierter Offiziere usw.

Es ist auch nicht so, dass die Gesinnungslumperei und das plebejische Benehmen erst durch die Gefangenschafts-Situation entstanden sind. Diese Charaktermängel treten hier nur stärker zutage. Sie waren im Keim, als Erbgut, schon vorhanden und sind durch die hiesigen ungünstigen Umstände ans Licht gekommen. Dass durch den Offiziermangel in den letzten Kriegsjahren viele Unfähige und Unwürdige das Offizierskorps gelangten, zeigt schon die Tatsache, dass im Lager Windau Anfängerkurse für Deutsch und Rechnen eingerichtet waren (wobei ich das Bildungsstreben durchaus positiv werte). Was man nicht schon als Erbgut mitbekommen hat, kann kaum oder nur sehr mühsam anerzogen werden. Aber die dünne Erziehungstünche fällt in entscheidenden Situationen wie Putz von den Wänden.

Die einen sagen: Not kennt kein Gebot, oder: In der Not steht man allein. Die anderen sagen: Not verbindet die Menschen zu einer Not- und Schicksalsgemeinschaft und schweißt sie zusammen. Beide haben recht. Es hängt von der Veranlagung der Betroffenen ab, ob sie sich in der Not zusammenschließen oder gegenseitig auffressen. Die Not ist nur der Prüfstein, an dem alle unechten und verlogenen Hüllen des Menschen zerbrechen, bis der wahre Kern zum Vorschein kommt.

Nach dem 1. Weltkrieg hat der italienische Ministerpräsident in einem Buch geschrieben,[25] und Lloyd George in einer Denkschrift bewiesen, dass ungerechte Forderungen, die der Sieger im Triumphgefühl dem Besiegten aufzwingt, schon wieder den Keim zu einem neuen Krieg bilden. Sie haben Recht behalten. Hitler verdankte einen Großteil seiner anfänglichen Erfolge und Sympathien im deutschen Volk der Tatsache, dass er die demütigenden und ungerechten und wirtschaftlich bedrückenden Bestimmungen des Versailler Diktats zu beseitigen versprach. Was er dann auch tat. Stresemann war dies in zwölfjährigen Verhandlungen nicht gelungen, obgleich er immer neue Zugeständnisse machte. Im Hinblick darauf sagte Stresemann ein Jahr vor seinem Tod[26]: „Ich habe gegeben und gegeben, ihr aber (die Alliierten) habt genommen und genommen. Das war meine Schuld und euer Verbrechen!“[27]

Kriegsschuld? Schuld hat nicht immer der, der einen Streit beginnt, sondern derjenige, der durch ständige Sticheleien den Ausbruch eines Streites provoziert.

Träume in der Gefangenschaft

Im ersten Jahr träumte ich immer von Flucht. Einen dieser Träume habe ich noch in deutlicher Erinnerung: Ich war auf der Flucht und betrat ein lettisches Bauernhaus. Es war Nacht. Als ich in die dunkle Stube trat, sah ich auf dem Bett ein nacktes Mädchen liegen. Eigentlich erkannte ich nur die hellen Körperkonturen, aber es war trotzdem deutlich zu sehen. Das Mädchen war herrlich gewachsen und lag ausgestreckt im Bett. Dann endete der Traum schon. Aber dieses Mädchen hatte ich einmal in Wirklichkeit gesehen: Es war das Mädchen, dass ich in Kurland vom vorbeifahrenden Zug aus über einen Bauernhof wie eine Königin schreiten sah.[28]

Die anschließende Phase meiner Träume handelte von Krieg und Kämpfen. Sie waren immer siegreich. Auch hier erinnere ich mich an einem Grabenkampf. Wir nahmen im Sturm einen russischen Schützengraben. Ich stand oben auf dem Grabenrand und blickte zu den Russen im Graben hinunter. Nach der Besetzung des Grabens wollte ich die Verfolgung aufnehmen und sagte: „Ein Sieg ist erst vollkommen, wenn der Gegner völlig vernichtet ist!“ So hatte ich es im Taktik-Unterricht gelernt.

In den letzten Jahren der Gefangenschaft träumte ich wiederholt von der Heimat und von Heimkehr. Einmal sah ich ein 3-stöckiges Haus in russischer Holzbauweise, aber in meinem Empfinden war es mein Geburtshaus in Berlin, das auch 3-stöckig war.


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Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

  1. Johann Caspar Bluntschli: Denkwürdiges aus meinem Leben. 3. Band, Nördlingen 1884
  2. Heraklit, Fragmente, B 53
  3. vgl. 29.7.45 Fußnote 5
  4. so auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 26.04.2020 unter Berufung auf das Grundgesetz
  5. Bibel: Mt 10,39; Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,24; Lk 17,33; Joh 12,25
  6. Die Theodizee ist sehr wohl Thema der Theologie, das gerade infolge der Naziverbrechen einen radikalen Paradigmenwechsel erfahren musste (vgl. z. B. Armin Kreiner: Gott und das Leid. Bonifatius-Verlag, Paderborn 2005, besonders S. 58 ff.).
  7. Bibel: Joh 15,20
  8. Bibel: Joh 12,24
  9. Das Zitat ist – auch nach Mitteilung der Kudrun-Expertin Prof. Uta Störmer-Caysa – nicht aus der Kudrun-Sage. ChatGPT vermutet Nietzsche!?
  10. Der Autor erzählte, dass in seiner Zeit als SA-Mitglied Treffen immer zur Zeit des Gottesdienstes angesetzt wurden. Verärgert wechelte er daher zur HJ.
  11. im Original „ihn“
  12. im Original „vor der englischen Königin“; gemeint ist wohl Ribbentrops Fauxpas, als er beim Überreichen seiner Beglaubigung den König nicht mit den üblichen drei Verbeugungen grüßte, sondern mit dem Hitlergruß (Geoffrey T. Waddington: Hitler, Ribbentrop. Die NSDAP und der Niedergang des britischen Empire 1935-1938. Vierteljahreshefte Für Zeitgeschichte Jahrgang 40 (1992) Heft 2 S. 292); der Vorgang wurde in britischen Blättern zurückhaltend diskutiert und in deutschen verschwiegen oder verharmlost bzw. in Hetze verpackt.
  13. gelb auch gem. WDR, gem. Wikipedia hingegen blieben sie blau
  14. Dies ist sachlich falsch, denn der Föderalismus ist eine Konstante in den deutschen Verfassungen, außer in Nazideutschland und der DDR.
  15. Friedrich Schiller, Xenien, Deutscher Nationalcharakter
  16. Friedrich Ebert
  17. Wahrscheinlich ist Willy Brandt gemeint, womit sich die Niederschrift dieses Abschnitts des Typoskripts auf die Jahre seiner Kanzlerschaft (1969 bis 1974) eingrenzen lässt.
  18. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Erster Band. Tübingen 1797; S. 48–49
  19. Soziale Gerechtigkeit. Ideen – Geschichte – Kontroversen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Nr. 1571, 2. erweiterte u. überarbeitete Auflage Bonn 2015), Kap. III S. 78 legt nahe, dass es Platon oder Aristoteles war.
  20. Tatsächlich begann der Opferschutz in den 1970er Jahren, also gerade während der Niederschrift dieses Tagebuchs.
  21. cf. footnote 6
  22. Wladimir Iljitsch Lenin: Sozialismus und Krieg (Sept. 1915)
  23. Schlussakte von Helsinki vom 01.08.1975; auch Datierungshilfe für diesen Abschnitt des Typoskripts
  24. s. Fußnote 9 vom 29.7.45
  25. wahrscheinlich Francesco Saverio Nitti: Europa am Abgrund (L'Europa senza pace, 1921)
  26. im Original auf dem Sterbebett; die Jahreszahl ergibt sich aus Wikiquote
  27. Etwas weniger dramatisch liest sich das Zitat in der Wikipedia: „Wenn ihr mir nur ein einziges Zugeständnis gemacht hättet, würde ich mein Volk überzeugt haben [...] Die Zukunft liegt in den Händen der jungen Generation. Und die Jugend Deutschlands, die wir für den Frieden und für das, neue Europa hätten gewinnen können, haben wir beide verloren. Das ist meine Tragik und eure Schuld.“
  28. in Livland am 23.08.1944