9. August 1940

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English

1. Buch: Der Krieg

Vorwort

Im Januar 1945 überfluten die Horden der Roten Armee die pommersche Heimat. Sie plündern und morden und vergewaltigen deutsche Frauen und Mädchen. Als sie sich Cammin nähern, entschließt sich meine Frau, unter Zurücklassung der gesamten Habe mit den beiden Kindern die Stadt zu verlassen und nach Berlin auszuweichen. In der Camminer Wohnung war auch das Original-Tagebuch zurückgeblieben. Ich selbst befand mich an der Front in Kurland.

Ich habe nun versucht, während meiner viereinhalbjährigen Zwangsarbeit in der Sowjetunion die Kriegsereignisse nochmals aus dem Gedächtnis stichwortartig niederzuschreiben. Aus diesen Notizen, die ich unter großem Risiko aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt habe, sind dann später in der Heimat die vorliegenden Aufzeichnungen entstanden.

Ihnen fehlt sicher die Frische und Lebendigkeit der Original-Eintragungen, die oft unter dem erregenden Eindruck des gerade Erlebten zuweilen direkt auf dem Schlachtfeld geschrieben waren. Dafür sind sie vielleicht von größerer Objektivität, da sie die Ereignisse, durch spätere Erfahrungen bereichert, in gewissem Abstand sehen.

Vieles habe ich vergessen. Manche Episoden habe ich fortgelassen. In einigen Fällen konnte ich die chronologische Reihenfolge nicht mehr exakt rekonstruieren, und manche Daten werden auch nicht ganz genau stimmen. Aber die Geschehnisse selbst haben sich genau so abgespielt, wie ich sie geschildert habe.

Diese Blätter schildern das Leben eines Soldaten in Krieg und Gefangenschaft. Es sind Ausschnitte aus dem Wirkungsfeld und der Gedankenwelt eines Zugführers und späteren Kompaniechefs[1]. Sie sind aufgeschrieben aus dem Wunsch heraus, diese neun Jahre härtesten Lebens und intensiven Erlebens mit ihrem reichen Erfahrungsschatz festzuhalten. Von diesen neun Jahren habe ich allein acht Jahre in der Sowjetunion zugebracht.

Bei meiner Heimkehr habe ich diese Aufzeichnungen und mein Soldbuch trotz strenger sowjetischer Kontrollen und nervenfressender Durchsuchungen in sicherem Versteck über die Grenze geschmuggelt. Ich war mir darüber klar, dass ich für weitere Jahre in die UdSSR zurückgeschickt worden wäre, wenn man diese Papiere bei mir gefunden hätte. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ob sich dieses Risiko für diese Blätter gelohnt hätte, ist allerdings fraglich.

1. Teil

Letzte Friedensjahre – erste Anzeichen des Krieges

– Einberufung nach Brandenburg/Havel – Abstellung nach Galizien

Der Autor 1939 auf Juist

Hochsommer 1938. Badesaison auf Juist. Ich sitze mit meinem alten Freund Albert in einer Pension der Nordseeinsel am Frühstückstisch und blättere in meinem Wehrpass, der gerade mit der Frühpost gekommen war. Ich hatte nämlich im Frühjahr meine zweite Reserveübung als Reserveoffiziers¬an¬wär¬ter[2] abgeleistet und hielt nun das Ergebnis in Händen: „… mit Wirkung vom 29.6.38 zum Feldwebel d. Res. (der Reserve) befördert.“

Im folgenden Sommer bin ich wieder auf Juist. In geselligem Verkehr vergeht die herrliche Urlaubs¬zeit. Strahlende Sonne, rauschende Brandung und gepflegte Menschen; stiller Mond, glitzerndes Wat¬tenmeer und eine sehr schöne Frau; einschmeichelnde Tanzmusik und ein pflichtenfreies Dasein erfül¬len das Herz mit unbeschwerter Lebensfreude.

Aber schon sperrt Stacheldraht einige Teile der Insel ab, und fern über der See rattert Maschinen¬ge¬wehrfeuer. Deutsche Jagdflieger machen Schie߬übungen. Der Krieg wirft seine Schatten voraus.

Und dann bricht es los. Am 1. September 1939 greift die Deutsche Wehr¬macht Polen an. In einem bei¬spiellos kurzen und harten Blitzfeldzug von 18 Tagen wird die polnische Armee zerschmettert und das Land besetzt.[3] Ich musste meine gerade begonnene Leutnantsausbildung abbrechen und wurde nach Hause geschickt. Die Kaserne musste zur Aufstellung von Reserveeinhei¬ten freigemacht werden.

England und Frankreich erklären uns den Krieg, bleiben aber noch „Gewehr bei Fuß“ an der West¬grenze stehen. Der Winter sieht im Westen nur Späh- und Stoßtrupptätigkeit. Das ist 1939/40.[4]

Ich bin immer noch zuhause, mache meinen Schuldienst und verbringe hin und wieder ein Stündchen mit der sehr zugänglichen rothaarigen Tochter unseres Hauswirtes, einer gut gewachsenen Turnerin.

In den Osterferien 1940 verbringe ich mit Albert einen Skiurlaub im Riesengebirge. Wir wohnen im Jugendkammhaus, einer Jugendherberge. Aber für zwei Tage und Nächte ziehe ich in die kleinere und ruhigere Peterbaude, wohin mich eine Bekannte eingeladen hat, die ich kürzlich bei einem Nachmit¬tags-Tanzkaffee in einer anderen Baude kennengelernt hatte. Wir verbringen herrliche Tage auf dem Kamm, von dessen Höhe man weit in das böhmische und schlesische Land hinuntersehen kann. Unse¬re Skitouren werden durch keine Grenze behindert, denn die tschechischen Grenzpfähle liegen zerbro¬chen im Schnee. Das Großdeut¬sche Reich ist erstanden.[5]

Im Frühjahr 1940 geht die Deutsche Wehrmacht auch im Westen zur Offensive über. Holland und Belgien werden überrannt, die Engländer über den Kanal gejagt, und sechs Wochen nach Beginn des Feldzuges hat Frankreich kapituliert.[6]

Noch einmal verlebe ich im Sommer drei unvergessliche Urlaubswochen in Zechlin-Flecken, mitten in der wald- und seenreichen Landschaft der geliebten Mark Brandenburg. Wohltuende Stille liegt über dem alten Jagdschloss, in dem ich wohne.[7] Anfangs als einziger Gast, später mit zwei weiteren (Mut¬ter mit kleiner Tochter), werden wir von der liebenswürdigen Wirtin, der evangelischen Pfarrersfrau, mütterlich versorgt. Ich genieße die Urlaubsfreuden mit der jungen Frau Lotte und oft auch gemein¬sam mit der kleinen Tochter. Den größten Teil des Tages liegen wir auf dem Wasser oder am Ufer ei¬nes der Seen, zuweilen bis in die Nacht hinein. Oft unternehmen wir kleinere oder größere Fahrten in einem weißen Boot, das wohl dem Pfarrhaus gehört. Wir paddeln über die stillen Seen und durch die schmalen Kanäle, die die Gewässer miteinander verbinden. Das Boot gleitet fast lautlos an dem wis¬pernden Schilfgürtel vorbei, aus dessen Dickicht das Flöten und Quarren der Wasservögel dringt. Lei¬se glucksend schlägt das Wasser gegen das Boot. Die warme Sommerluft liegt ruhig und still. Alles at¬met tiefen Frieden. Selbst die Nächte sind warm, und dann spukt es manchmal in dem alten Schlöss¬chen. Die hölzerne Treppe knarrt, und eine Tür quietscht leise. Die junge Frau ist deswegen etwas be¬sorgt, aber sonst stört es niemand. Wer sollte denn da auch nachts durch das Haus schleichen? Und warum?

Eines Tages kreist ein Jagdflugzeug am Himmel. Da beschleicht mich ein leises Unbehagen. Der da oben hat eine Aufgabe. Er fliegt für Deutschland. Ich aber mache mir hier unten gemütliche Tage. Und während an der Front deutsche Männer bluten, genieße ich in der Heimat das süße Leben.

Wenige Tage nach diesem Urlaub liege ich wieder auf dem Wasser. Diesmal ist es der Wannsee, und das Boot ist blau. Es gehört Lotte, meiner Urlaubspartnerin in Zechlin-Flecken, oder vielmehr ihrem Mann, einem Oberregierungsrat, und wieder jagt eine Kampfmaschine durch den blauen Himmel nach Gatow. Da habe ich es satt, am nächsten Tag fahre ich zum Wehrkreiskommando, um endlich meine Einberufung zu erreichen. Dabei klärt sich ein unglaublicher Irrtum auf: In meinen Papieren, die beim Wehrbezirkskommando in Neukölln liegen, steht der Vermerk: „Einberufen zum 1. September 1939“. Ich habe aber niemals eine Einberufung erhalten, obgleich ich mehrmals seit Kriegsbeginn beim Wehrbezirkskommando angerufen hatte. Diesmal bin ich erfolgreicher. Drei Tage später habe ich mei¬nen Gestellungsbefehl in Händen. Nun aber, da es so weit ist, und ich den kühlen, knappen Befehl le¬se, fühle ich doch ein leises Bedauern über mein voreiliges Handeln. Aber ich habe es ja so gewollt.

Was mich zur freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst trieb, kann ich eigentlich nicht genau sagen. Es war keine vernünftige Überlegung, sondern eher ein ganz natürlicher Erlebnisdrang, so wie es mich früher auch schon zur Seefahrt getrieben hatte, es war wohl auch die Angst, in dem siegreichen Krieg (nach den anfänglichen Blitzsiegen konnte man wohl mit einem Endsieg rechnen) nicht mitgewirkt zu haben und ohne Kriegsauszeichnungen neben den kriegserfahrenen Kollegen zu stehen. Eine Mi¬schung aus Eitelkeit und Pflichtbewusstsein. Vielleicht auch ein Gefühl, das ich – etwas anmaßend – mit Diotimas Worten wiedergeben möchte, mit denen sie Hyperion in den Krieg schickte: „Deine volle Seele gebietet Dir’s. Ihr nicht zu folgen führt oft zum Untergang. Ihr zu folgen, wohl auch. Das beste ist, Du gehst, denn es ist größer.“[8]

Einberufung nach Brandenburg/Havel

Kaserne des I.R. 68 an der Magdeburger Straße in Brandenburg an der Havel, nordwestliches Gebäude der früheren Kavallerie-Kaserne, heute Technische Hochschule Brandenburg

Am 9. August 1940 rückte ich als Feldwebel zur 4. MG- (Maschinengewehr-) Ersatzkompanie des Infanterieregiments 68 in Brandenburg/Havel ein. Es ist dieselbe Kaserne, in der ich meine Übungen abgeleistet habe.[9] Ich beziehe ein Einzelzimmer im dritten Stock. Da noch nichts los ist – es ist Samstagnachmittag (oder Sonntagnachmittag?[10]) – mache ich in einem plötzlichen Entschluss kehrt und fahre nochmal nach Berlin zurück. Heimweh war es nicht. Das kenne ich nicht. Ich habe noch nie im Leben Heimweh gehabt. War es vielleicht Sehnsucht nach dem Wannsee? Abends bin ich wieder zurück.

Abstellung nach Galizien

Nun folgen zwei Monate Kasernendienst, bis mich eines Tages ein neuer Befehl erreicht: Feldabstel¬lung!


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Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen


  1. Die Dienststellung eines Kompaniechefs wurde verliehen und konnte nicht – wie die meist vorübergehende Einteilung als Kompanieführer – rückgängig gemacht werden; das gleiche gilt für Bataillons- usw. -kommandeure bzw. -führer.
  2. Der Autor gehörte zu den sogenannten weißen Jahrgängen, die nicht der 1935 eingeführten Wehrpflicht unterlagen. Er hatte sich aber freiwillig gemeldet und vom 1. Juni 1935 bis Ende März 1936 seine Grundausbildung im Ergänzungs-Bataillon 17 in Zerbst abgeleistet.
  3. Polenfeldzug 1. September–6. Oktober 1939
  4. sog. Sitzkrieg 3. September 1939–10. Mai 1940
  5. Zwischen dem 1. und 10. September 1938 war das Sudetenlandeingegliedert“, am 15. März 1939 die „Rest-Tschechei“ besetzt worden.
  6. Westfeldzug 10. Mai–25. Juni 1940
  7. Das ehemalige Schloss war damals schon ein unauffälliges Amtshaus; möglicherweise ist das Landhotel Elsenhöhe gemeint.
  8. Friedrich Hölderlin: Hyperion
  9. heute TH Brandenburg
  10. Der 9. August 1940 war ein Freitag.