29. Dezember 1941
GEO & MIL INFO | ||||
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Nikolajewka | ||||
OKW-Lagekarte Januar 1942 | ||||
bei Nachbardivision (295. I.D.), die zur Gr. von Schwedler gehörte; am 7.1. und (bis?) 1.3.42 lag dort das I.R. 518 (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 001038, Roll 1805 Frame 000984), gem. Kirstein S. 564 f. das II. Batl. 257. I.D.: zwischen 3. und 6.1.42: stellv. DivFhr Oberst Taeglichsbeck[1] 17.1.42: GenLt Sachs zurück[2] | ||||
XXXXIV. A.K.: 17.1.42: m.d.stellv.F.b.: GenLt StapfWP | 15.1.42: von Reichenau Schlaganfall 17.1.42: OB: GFM von BockWP |
Am nächsten Morgen verlasse ich mit zwei Meldern das Dorf, um nach Nikolajewka hinüberzugehen. Ich überschreite die kleine Holzbrücke über den Torez, der Raigorodok an der Frontseite umfließt, und erreiche ••• S. 59 •••nach einigen hundert Metern die „Straße“, die nach Nikolajewka führt. Vor uns liegt die weite, tischebene und tief verschneite Ebene. Der Weg ist kaum zu erkennen, aber wir brauchen nur den Telegrafenmasten zu folgen, die in endloser Reihe neben dem Weg herlaufen und direkt nach Nikolajewka führen. In der Ferne erkennen wir die Häuser des Dorfes. Sie sind noch winzig klein, aber in der kristallklaren Winterluft deutlich zu sehen. Nach der Karte sind es ca. sechs Kilometer bis dorthin. Ostwärts am Ende der Ebene liegt der dunkle Wald, in dem sich die russischen Stellungen befinden. Von dort aus verfolgen uns jetzt mit Sicherheit sowjetische Posten und Späher mit Augen und Ferngläsern. Aber die Gefahr ist nicht groß. Für einen Gewehrschuss ist die Entfernung zu weit, und für schwere Waffen sind wir kein lohnendes Ziel.
In Nikolajewka melde ich mich beim Bataillonsstab. Meine beiden Melder treten den Rückweg an, und ich suche mein Quartier auf, das man mir schon bereitgestellt hat. Es liegt nahe beim Bataillonsstab in einer langen Häuserreihe, die den Dorfrand bildet. Hinter den Hausgärten dehnen sich die weiten, verschneiten Flächen, die ganz allmählich ansteigend in etwa zwei Kilometern Entfernung den oberen Rand des hohen Talhanges erreichen. Dort oben verläuft die Front. Fast unmerklich flache Erhebungen lassen unsere dortigen Bunkerstellungen erahnen, und oft sehe ich abends die glutroten Feuerfontänen der krepierenden Granaten um diese Stellungen herumtanzen.
Mein Quartier ist das letzte von Soldaten belegte Haus in dieser Straße. In den noch folgenden Häusern wohnen nur Zivilisten. Eine dieser Unterkünfte war bis vor kurzem noch von drei Artilleristen belegt, die hier eine B-Stelle hatten. Das Haus wurde durch einen Volltreffer zerstört, und die drei Artilleristen getötet. Als ich gestern mal zu der Stelle hinging – sie ist nur fünfzig Meter von meinem Quartier entfernt – lagen die drei Kameraden immer noch so da, wie sie gefallen waren.
Ich wohne allein bei einer russischen Familie. Mein warmes Mittagessen hole ich mir im Kochgeschirr von der Feldküche, die in einem der Nachbarhäuser steht. Dabei muss ich mich auf dem Rückweg beeilen, denn bei der knirschenden Kälte ist das Essen, das glühend heiß aus der Gulaschkanone kam, auf dem fünfzig Meter weiten Weg erkaltet, wenn ich nicht im Laufschritt nach Hause renne.
Den Vormittag verbringe ich oft mit dem Studium einer politischen Karte, wobei mich das Wachsen des Großdeutschen Reiches mit Genugtuung erfüllt. Eines Tages sitze ich wieder über der Karte, als sich ein widerlicher Geruch in der Stube verbreitet. Ich stehe auf und werfe einen Blick durch die Glasscheibe der Tür in die Küche. Da sehe ich, wie die Bäuerin ihr Baby zu einer großen Verrichtung einfach über der Erde abhält. Dann nimmt sie einen Strohwisch und verschmiert das ganze Geschäft auf dem Lehmfußboden der Küche.
Ein andermal habe ich erlebt, dass eine Frau ihr Kind über der Waschschüssel abhielt. Als ich ihr mein Missfallen äußerte und daran erinnerte, dass sie sich doch in dieser Schüssel auch wasche, antwortete sie halb erstaunt und halb verständnislos: „Das macht doch nichts, die Schüssel wird doch wieder ausgewaschen!“ Solche und ähnliche Erlebnisse gibt es öfter. Man braucht aber deshalb nicht überheblich zu werden. Ich habe in unseren ländlichen Provinzen in Deutschland ähnliches erlebt. Aber wie allen Denk- und Lebensbereichen bei Deutschen und Russen, gehen auch die Begriffe von Hygiene weit auseinander. Die Russen nennen uns unkul••• S. 60 •••tiviert, weil wir unsere WC’s in der Wohnung haben. Eine Toilette in der Wohnung – welch eine Schweinerei! Die russischen Örtlichkeiten liegen oft außerhalb und weitab vom Haus. Die Russen vergessen dabei nur zweierlei: 1. Auf deutschen Klos kann man essen; an die russischen kommt man nur über Berge von Exkrementen heran, die im Klo keinen Platz mehr haben. 2. Die russischen Kloaken kann man nicht ins Haus verlegen, ohne sich die Pest hereinzuholen. Wenn der Russe an Toiletten denkt, dann denkt er an seine, und deshalb ist ihm der Gedanke an ein WC im Haus so unvorstellbar. Nur so ist es zu begreifen, dass ein russischer Offizier in seinem deutschen Quartier das Klobecken herausreißen und dafür eine Torfkiste hinstellen ließ.
Ich habe „Toiletten“ in russischen Mietshäusern und in Direktorenhäusern[3] gesehen, und sie waren alle gleich unbenutzbar. Zweifellos gibt es auch in Russland viele saubere Klos. Aber wenn mir ein Tourist 16 Jahre nach dem Krieg erzählt, dass selbst in den Badeorten der Krim die Toiletten nicht besser aussehen, dann wundert mich das eigentlich nicht. Die Lebensgewohnheiten eines Volkes ändern sich nicht so schnell.
Ähnliche Rätsel gibt das russische Schamgefühl auf. Es liegt offenbar auf einer ganz anderen Ebene als das unsere, oder es tritt überhaupt in ganz anderen sittlichen Relationen auf. Wenn sie die von den Landsern aufgehängten Magazinbilder mit halbnackten Mädchen sehen, oder wenn wir an glühend heißen Sommertagen mit kurzen Turnhosen durch das Dorf laufen, sagen sie „nix kultura!“.Aber die sowjetische Soldateska schämt sich nicht, in tausendfachen sexuellen Exzessen deutsche Frauen zu schänden, wobei jeweils ganze Gruppen eine einzige Frau vergewaltigten. Oder der russische Bauer, der seine deutsche Einquartierung zusammen mit seiner Tochter in das Nebenzimmer schiebt und die Tür lachend abschließt. Ich gebe zu, dass mir diese Zusammenhänge noch nicht klar sind und mein Urteil vielleicht etwas schief.[4] Die massenhaften Schändungen deutscher Frauen jedenfalls stehen in der europäischen Kriegsgeschichte bisher beispiellos da. Gemessen an unserem europäischen Sittenkodex ist dieses Verhalten viehisch. Aber der Russe denkt und fühlt und handelt eben anders. Jedenfalls scheint die gruppenweise Benutzung ein und derselben Frau für die Russen nichts Ungewöhnliches zu sein, denn sie haben sogar ein Wort dafür: Tschubarovschtschina[5]. Wo liegen die Gründe dafür? Ist es das im russischen Wesen stark ausgeprägte Kollektivbewusstsein, das uns individualistischen Europäern unbekannt ist? Sind es unterschwellige Relikte aus der Mongolenzeit, Mangel an Ritterlichkeit und an Achtung vor der Würde der Frau? War es nur der Siegesrausch einer entfesselten Soldateska? Oder die durch die hasstriefenden Veröffentlichungen des jüdisch-russischen Autors Ilja Ehrenburg aufgepeitschten Instinkte? Oder alles zusammen? Jedenfalls zeigt sich auch hier der abgrundtiefe Wesensunterschied zwischen unseren Völkern.
Russische Artillerie legt Störfeuer auf das Dorf. In großen Abständen krepiert jeweils eine Granate. Der Schall und Druck pflanzt sich anscheinend in der Schneedecke fort, denn bei jeder Explosion gibt es einen sonderbar hellen Ton in der Schneedecke, der sich durch das ganze Dorf fortpflanzt. Als der Beschuss einsetzt, lese ich gerade Zeitung. Ich will mich nicht stören lassen. Diese Kleckerei kann ja einen alten Krieger nicht erschüttern. Ich will weiterlesen, ertappe mich aber wiederholt dabei, dass ich immer auf den nächsten Einschlag warte. Also lege ich die Zeitung weg. Doch etwas entwöhnt, alter Junge! Zu lange Ruhe gehabt? Bei der Weitläufigkeit des Dorfes richten die einzelnen Einschläge keinen großen Schaden an. Immerhin hat eine Granate den Regimentsgefechtsstand getroffen. Es ist aber niemand verletzt.
Eben bringen sie einen Rotarmisten zum Bataillon. Er sollte mit einer schweren Zugmaschine ein russisches Geschütz aus der Stellung holen. Dabei war er in der Dunkelheit versehentlich über seine Stellungen hinausgefahren und auf deutscher Seite gleich mitsamt seinem Trecker einkassiert worden. Es scheint ihn aber keineswegs zu erschüttern. Er macht einen fast selbstzufriedenen Eindruck.
Ich war ins Bett gegangen. Es ist finster, aber ich liege noch wach. Da höre ich, dass die Stubentür leise geöffnet wird. Ich sehe den Schatten der 15-jährigen Tochter. Sie kommt herein und geht zu dem anderen Bett, das an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers steht. An den Schattenbewegungen und den Geräuschen erkenne ich im Halbdunkel, dass sie sich entkleidet und dann ins Bett geht. Ganz vernünftig. Warum soll dieses bequeme Bett leer stehen?
••• S. 61 •••Ich ziehe um. In meinem bisherigen Quartier habe ich mich sehr wohl gefühlt. Mit den Russen bin ich kaum in Berührung gekommen. Sie wohnten in der Küche, während ich die Wohnstube für mich allein hatte. Da ich aber in letzter Zeit häufiger gebraucht wurde und nicht immer durch den tiefen Schnee bis zum Bataillon stapfen wollte, zog ich in die Unterkunft des Nachrichtenstaffelführers. Es war ein Feldwebel, der mit seinem Melder im Haus neben dem Bataillonsgefechtsstand wohnte. Hier sind wir also zu dritt, aber die Kameraden sind sehr freundliche Kerle, und ich bin mit dem Wechsel ganz zufrieden. Morgens schlafen wir, solange wir Lust haben. Nach dem Aufstehen beginnt sofort die Entlausung. Wir sitzen dann auf dem Bettrand und suchen Hemd und Unterhose nach Läusen ab, die zwischen beiden Daumennägeln zerknackt werden.[6] Darin sind wir routinierte Spezialisten. Anschließend folgt das Waschen und Frühstücken. Inzwischen hat die Bäuerin oder die Tochter geheizt, und es ist wohlig warm. Dann gehen die beiden Kameraden zum Dienst. Der Staffelführer ist meist den ganzen Tag unterwegs. Sein Melder ist häufiger zuhause. An solchen Tagen unterhalten wir uns oft sehr angeregt. Den größten Teil des Tages bin ich aber allein.
Es ist unvorstellbar kalt. Minus 30 Grad und kälter.
Heute muss ich nach Rai Gorodok. Der Schlitten bringt mich in fünfzig Minuten über die Ebene. In Rai Gorodok übergibt mir der Adjutant meines Bataillons andere Papiere, die ich nun nach Nikolajewka zurücknehme. Als ich die Rückfahrt antrete, beginnt es schon zu dunkeln. Wir fahren zwischen der letzten Häuserreihe von Rai Gorodok hindurch, gleiten die flache Uferböschung des Torez hinunter, überqueren mit dumpfem Rumpeln die kleine Holzbrücke und fahren in die Ebene hinein. Jetzt hebt der Fahrer den Arm, die Pferde legen sich ins Geschirr, und in zügigem Trab zischt der Schlitten in die weiße Dämmerung hinein. Ganz fern im fallenden Abendlicht glaube ich die ersten Häuser von Nikolajewka als dunkle Flecken zu erkennen. Links in der Ferne liegt dunkel und schweigend der Wald. Von dort aus könnten uns jetzt Berittene oder Skipatrouillen den Weg verlegen, denn unsere Straße verläuft fast parallel zur feindlichen Front. Ich sitze im Fond des Schlittens, den siebenschüssigen Trommelrevolver in der Faust. Das nächste Mal werde ich lieber die MPi (Maschinenpistole) mitnehmen. Vor mir auf dem Bock sitzt der Fahrer, in seinen dicken Schafspelz gehüllt. Über seiner Schulter hängt der Karabiner. Jetzt hebt er wieder die Peitsche, und die Pferde galoppieren an. Hastiger trommeln die Hufe, und das Gespann jagt wie der Wind über die Ebene. Mit leisem Zischen fegen die Kufen über den Schnee. Der Schlitten fliegt. Es ist fast dunkel. Ich habe mich auf die Aktentasche gesetzt und meinen Kragen vor das Gesicht geschlagen, aber der schneidende Fahrtwind treibt mir die Tränen in die Augen. Nach einiger Zeit haben wir die gefährlichste Strecke hinter uns. Die Pferde fallen wieder in Trab. Bald passieren wir die Obstplantage und erreichen dann nach einer Kurve die ersten Häuser von Nikolajewka. Ich übergebe meine Aktentasche dem Bataillonsgefechtsstand und kehre in mein warmes Bauernhaus zurück. ••• S. 61 Haupttext mit Ende 1941/Dezember/29 unterbrochen; Einschub Abschnitt (A): 1942/Januar/18, Abschnitt (B): Anfang des 1942/Januar/23 und Abschnitt (C): Ende des 1942/Januar/23, 1942/Januar/28 und Anfang des 1942/Januar/29 •••
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ letzte Unterschrift Schütze am 3.1. (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 001023), erste Unterschrift Taeglichsbeck (Kdr I.R. 477) am 6.1. (Frame 001034); ab diesem Zeitpunkt muss Haarhaus (Kdr I./477) das Regiment bereits stellvertretend geführt haben
- ↑ KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 001072
- ↑ in Smolensk
- ↑ zum Kulturbegriff bei den Russen vgl. Cartellieri S. 339
- ↑ Die genannte Bezeichnung meint keinen „gewöhnlichen“ Gruppensex; sie leitet sich vielmehr von einem ungeheuerlichen Verbrechen ab: In der Nacht vom 22. zum 23. August 1926 wurde in Leningrad in der Chubarow-Straße eine Gruppenvergewaltigung begangen, die später als "Chubar-Fall" bekannt wurde. Mehr als 30 Personen nahmen an der Vergewaltigung teil; 23 von ihnen wurden vom Gericht als Banditen eingestuft, 7 von ihnen zum Tode verurteilt, obwohl damals als Höchststrafe für Gruppenvergewaltigung nur eine Haftstrafe von bis zu 8 Jahren vorgesehen war!
- ↑ Der Beschreibung nach könnten es auch Flöhe sein.