17. Mai 1942

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English

Sommer-Offensive und Vormarsch 1942

GEO & MIL INFO
Christischtscher Wald Karte — map
17.–19.05. Unternehmen Fridericus
Autor ist Granatwerferzugführer in der 4./477, KompFhr: Max Müller[1]
Das Kampfgebiet nördlich von Slawjansk mit Majaki, der Försterei, Karpowka und dem Christischtscher Wald; oben in der Mitte die Schlucht Wissla[2]

Die Nacht naht heran. Ich habe noch eine Stunde Zeit zum Ruhen, aber das Gehirn arbeitet noch weiter an den Aufgaben des kommenden Tages.••• S. Überschrift und diesen Satz später löschen, ist unter 16. •••

Um Mitternacht kommt der Abmarschbefehl. Die Züge ordnen sich, und dann verlässt die Kolonne das Dorf. Wir folgen zunächst dem Feldweg, der zur Försterei führt. Auf dem Weg überholen uns einige Panzer. Ihre klobigen Schatten rumpeln an uns vorüber.

Die Spitze hat eine Waldecke erreicht. Aus dem Schatten der Bäume lösen sich einige Gestalten: Unsere Einweiser. Wir nähern uns den Ausgangsstellungen. Die Kolonne spaltet sich in einzelne kürzere Schlangen, die nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen. Jetzt hat sie das Dunkel des Waldes verschluckt. Man hört kein lautes Wort mehr, nur geflüsterte Anweisungen, das Klappern eines Kochgeschirrs, das Knacken eines trockenen Astes. Es ist nicht immer so lautlos, wie es sein sollte. In der Stille der Nacht klingen manche Geräusche überdeutlich, und auf den Übeltäter regnen dann immer unterdrückte Flüche herab.

Die Schlange hat sich in einzelne Gruppen aufgelöst, die in Gräben und Erdbunkern verschwinden. Es ist unsere alte Verteidigungslinie, aber jetzt ist sie vollgestopft mit Angriffstruppen. Der Wald hat sich wieder in tiefes Schweigen gehüllt. Er schläft einem neuen, herrlichen Maientag entgegen. Einem Sonnentag mit blauem Himmel und jungem, frischgrünem Wald; einem Tag, an dem die ganze Schöpfung neues, junges Leben atmet.

Ich stehe im Graben zwischen unseren Männern und blicke nach oben.

Der neue Tag beginnt zu dämmern. Die dunklen Wipfel der Bäume heben sich schon etwas von dem nachtblauen Himmel ab. Einige Zweige wiegen sich sanft mit wispernden Blättern. Auf dem Boden ist noch Ruhe. Beim Russen drüben regt sich nichts. Wahrscheinlich erwarten sie uns. Auch wir warten. In den Gräben hocken die Sturmsoldaten Mann neben Mann. Auf Tuchfühlung sitzen wir dicht beieinander. Im fahlen Licht des nahenden Morgens sehe ich ihre ••• S. 89 •••matt glänzenden Stahlhelme wie eine riesige graue Perlenschnur. Hier und da bewegt sich ein Helm. Niemand spricht. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die Männer sitzen schweigend. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Auch ich spüre wieder die Nervenanspannung. Die Zähne vibrieren, wenn man sie nicht aufeinander beißt. Dieses Warten ist scheußlich. Da ist der Angriffsbefehl fast eine Erlösung. Nur dieser verdammte Urwald! Das ist wieder ideales Gelände für den Iwan.

17.5.42 – 3 Uhr morgens.[3] Einige dumpfe Abschüsse hinter uns, und schon erhebt sich ein wahrhaft tierisches Geheul über den Baumkronen. Auf- und abschwellendes Heulen und Jaulen erfüllt die Luft, und dann erzittert die Erde unter der Wucht zahlreicher Explosionen. Unsere Do-Werfer schießen! Das Krachen der Einschläge übertönt das Brechen und Bersten der Bäume. Neue Heultöne mischen sich in das Inferno. Sie dringen bis ins Mark. Aus großer Höhe kommend, jault es herab. Die Sirenen unserer Sturzkampfbomber! Mit unbeschreiblicher Wucht hauen sie ihre schweren Bomben in den Wald vor uns. Die Erde hüpft, und der Luftdruck der Explosionen lupft unsere Stahlhelme. Minutenlang rast dieser heulende, krachende Tod in die russischen Stellungen. Der Wald dröhnt und bebt. Unsere Männer haben sich erhoben und blicken mit brennenden Augen in den Wald. Weiße Leuchtkugeln zischen durch die Baumkronen hoch in die Luft, um den Stukas den Verlauf unserer Linie anzuzeigen.

Jetzt ein Signal: Angriff! Eine Welle graugrüner Gestalten klettert aus dem Graben und dringt in den Wald ein. Bald sind sie im dichten Unterholz verschwunden. Die Bombeneinschläge sind verstummt. Die ersten Gewehrschüsse fallen. Wie hell und harmlos klingen sie nach dem dröhnenden Grollen der Bombeneinschläge! Der Infanteriekampf beginnt. In das vereinzelte Feuer der Gewehrschüsse und das Rattern der MGs brandet hier und da das Hurra der stürmenden Deutschen. Das Echo verstärkt den Sturmruf und lässt den Wald davon widerhallen. Es klingt wie aus tausend Kehlen – und sind doch nur 300!

Waldkampf! Keilförmig stoßen wir in den Wald hinein. Die Spitzengruppe besteht aus ausgesuchten und bewährten Kämpfern, die mit zahlreichen Spezialwaffen ausgerüstet sind: Schnellfeuergewehren, Gewehrgranaten, Maschinenpistolen, Hand- und Wurfgranaten, die aus Leuchtpistolen abgeschossen werden können.

Das Unterholz hat sich etwas gelichtet und ist stellenweise ganz verschwunden. Wir sind im Hochwald, und bald stehen wir vor den ersten Verteidigungsstellungen der Russen. Es ist eine mehrere hundert Meter lange und drei Meter hohe Baumsperre, aus der uns heftiges Abwehrfeuer entgegenschlägt. Eine ganz verfluchte Situation. Man sieht keinen Gegner, aber aus allen Ritzen knallt es. Da die Sperre möglicherweise noch vermint ist, ist Vorsicht geboten. Also gehen wir erst einmal hinter den Bäumen in Deckung und versuchen, Feuerstellungen, MG-Nester und einzelne Schützen ausfindig zu machen. Ein Knall, ein Mündungsfeuer, eine Bewegung verraten uns den Gegner, und dann jagen wir unsere Kugeln und Feuerstöße hinüber. Aber der Russe hat die bessere Deckung, und mancher von unseren Kameraden wird getroffen. Der stille, sympathische Leutnant von der Försterei ist durch einen Rückenmarkschuss schwer verletzt. Mit erschreckend bleichem Gesicht liegt er auf der Bahre, und sein Kopf hängt kraftlos zur Seite, als die Sanitäter ihn an mir vorbei schnell aus dem Feuerbereich tragen. Man sieht, dass er dem Tod nahe ist. Wir haben hierin schon einige Erfahrungen gesammelt. An der Lage eines Körpers oder an der Stellung der Gliedmaßen erkennt man schon, ob ein Mensch tot oder verwundet ist. Ebenso an den Gesichtszügen oder der Gesichtsfarbe.

Da ist ein sowjetisches MG-Nest hinter der Baumsperre entdeckt. Ein Gefreiter lädt seine Leuchtpistole mit einer Wurfgranate, zielt nach Augenmaß und drückt ab. In steilem Bogen fliegt die Eierhandgranate zum Feind hinüber und fällt senkrecht hinter der Baumsperre herunter. Krachend detoniert sie mitten in dem MG-Nest. Volltreffer!

Es gibt immer wieder solche unfasslichen Vorkommnisse. Zufall nennen wir es. In Wirklichkeit ist es wohl Schicksal. War es in diesem Fall Glück oder Tüchtigkeit des Gefreiten? Er trägt jedenfalls schon das EK I (Eisernes Kreuz 1. Klasse).

Rechts von mir wird hart um eine Lücke in der Baumsperre gekämpft. Eine Bombe hatte hier eine Bresche aufgerissen. Die Wand steht schief. Unsere Soldaten hatten sich herangearbeitet. Nach erbittertem Feuergefecht wa••• S. 90 •••ren die ersten Angreifer hindurch gedrungen. Andere folgten schnell, und nun werden die roten Stellungen von der Seite aufgerollt. Immer neue Gruppen strömen durch die Bresche. Der Russe kann sich nicht mehr halten und beginnt, sich in aufgelösten Haufen zurückzuziehen. Seine Toten bleiben liegen. Wir setzen den Zurückweichenden nach, aber vorher werfen der Gefreite und ich noch schnell einen Blick auf das niedergekämpfte MG-Nest. Das MG ist umgeworfen. Daneben liegt ein Toter. Hinter dem Gewehr liegt der Richtschütze mit aufgerissenem Hinterkopf. Sein Gesicht liegt am Boden, und aus dem zerbrochenen Schädel hängt das Gehirn.

Der Wald scheint endlos zu sein. Immer noch dringen wir vor. Von Zeit zu Zeit mit brausendem Hurra, wenn einzelne Feindgruppen sich wieder festzusetzen versuchen. Manchmal auch nur, um den Iwan zu demoralisieren oder um die Verbindung mit den Nachbarkompanien in diesem unübersichtlichen Waldgelände akustisch aufrechtzuerhalten.

Inzwischen haben sich die Sowjets so schnell abgesetzt, dass nichts mehr von ihnen zu sehen ist. Aber der Wald ist groß und der Rückzug der Russen ist noch kein Sieg. Bei seiner hinterhältigen Kampfesweise muss man immer mit Überraschungen rechnen.

Gegen Mittag wird plötzlich „Halt!“ befohlen. Die Gruppen bleiben stehen. In solchem Gelände reißen die Verbindungen zwischen den Einheiten leicht ab, und das kann zu einer gefährlichen Verzettelung führen. Man stoppt also, um die Verbindungen zu überprüfen oder notfalls wiederherzustellen. Da kommt ein weiterer Befehl: „Einigeln!“. Nanu, was soll das!? Wir bilden einen großen Kreis und richten uns auf Rundum-Verteidigung ein. Einige Soldaten schaufeln sich eine Schützenmulde. Die meisten haben sich einfach auf die Erde gelegt und ruhen aus. Da stehen wir nun und haben das Gefühl, dass wir allein sind. Eine Kompanie, ein kleines verirrtes Häuflein im großen Waldmeer. Haben wir uns verlaufen? die Richtung verloren? Fühlung mit dem Feind verloren? Verbindung zum Nachbarn abgerissen? Einige Landser kommen zu mir mit ähnlichen Gedanken. Ich gehe zu Max Müller, um mich nach der Lage zu erkundigen. Aber selbst er als Kompanieführer weiß nicht genau Bescheid, meint aber, es sei alles in Ordnung. Da hören wir rechts im Wald Rufe und Antworten. Es sind Deutsche. Dorthin haben wir also Verbindung.

Ich weiß, dass im Kampf nicht jedem einzelnen Soldaten die Gefechtslage bekanntgegeben werden kann. Das ist unmöglich und auch nicht immer nötig. Andererseits besteht kein Zweifel, dass dieser Informationsmangel bei dem einfachen Soldaten oft zu Unsicherheit und Unwillen führt und bei der unteren Führungsebene sogar zu falschen Befehlen Anlass gibt.

Plötzlich rattert links ein MG los. Kurze Feuerstöße, erregte Rufe. Ich blicke in die Richtung und sehe einzelne erdbraune Gestalten durch das Gebüsch huschen. Russen! Ich nehme schnell ein paar Mann zusammen und setze ihnen nach. Sie sind nicht weit gekommen. Drei von ihnen liegen blutend im Gras. Die MG-Garben hatten sie erwischt. Die andern halten sich versteckt hinter den Bäumen. Da haben wir sie bald erreicht. Ich fordere sie auf, sich zu ergeben. Das „ruki wjärch!“[4] ist uns schon lange geläufig. Daraufhin kommen noch vier Mann hinter den Bäumen hervor. Wir suchen das Gelände noch kurz ab und gehen dann zurück. Die Iwans hatten sich verlaufen und waren dann im Wald umhergeirrt, bis sie unglücklicherweise uns in die Arme liefen. Einer von ihnen trägt einen deutschen Stahlhelm. Dieser vollgefressene Iwan grinst mich an. Verlegenheit oder Unverschämtheit? Meine Nerven sind ohnehin noch gespannt, und mich packt der Zorn. Ich drehe meine Maschinenpistole um und haue sie dem Iwan auf den Kopf, dass sich die Schulterstütze leicht verbiegt. Der Russe hat den Schlag durch den Stahlhelm überhaupt nicht gespürt, denn er grinst weiter. Oder hat er gemerkt, dass ich plötzlich stutzte. Mir fiel ein, wie leicht diese billige MPi losgeht. Bei dieser Fehlkonstruktion hätte schon der Schwung des Schlages genügt, um durch die Zentrifugalkraft den Rücklaufmechanismus in Bewegung zu setzen, und der Schuss hätte sich automatisch gelöst. Ich hätte mich durch meine Unbeherrschtheit selbst erschießen können, denn ich hatte die MPi ja umgedreht, und die Mündung war auf mich gerichtet. Im Unterbewusstsein dankte ich dem Herrgott für seine unbegreifliche Nachsicht mit mir.

Ich gehe noch einmal zu den verwundeten Russen. Zwei sind schon tot. Der Dritte ist schwer verwundet. Er sitzt im Gras und stützt sich mit beiden Händen auf den Boden. Ich überlege, was mit ihm werden soll. Wir können ihn nicht mitnehmen und wohl auch nicht zurücklassen. Wir können ja selbst nicht ••• S. 91 •••fort und wissen überhaupt nicht, was die nächsten Stunden bringen.

Da ruft plötzlich jemand: „Umlegen, den Kerl!“ Ein impulsiver, unüberlegter Ausruf. Ich höre ihn, ohne eigentlich darüber nachzudenken. In solchen nervenzerrenden Situationen wie diesem Waldkampf entschlüpft einem schon mal so ein gedankenloser Ausruf, und man hört ihn ebenso gedankenlos, ohne dass er ins Bewusstsein dringt. Auch hier kommt mir gar nicht zum Bewusstsein, dass dieser Ausruf eine Aufforderung zum Mord ist. Wer hat da eigentlich gerufen? ein Unteroffizier? ein Feldwebel, der gerade in der Nähe stand? Ich sehe, wie ein Landser an den Verwundeten herantritt. Er hält dem Russen die Mündung seines Gewehrs in den Nacken und drückt ab. Ein kurzer Knall. Ein fingerdicker Blutstrahl schießt dem Russen aus der Kehle gurgelnd ins Gras. Nach wenigen Sekunden knickt der Russe lautlos in die Ellbogen, der Kopf neigt sich langsam, und dann sinkt der Oberkörper vornüber ins Gras. Er ist tot.

Die gefangenen Iwans werden gleich zum Ausheben von Schützenmulden eingesetzt.[5] Ich bin wieder einmal erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der sich diese Naturburschen in die Erde wühlen können. Es ist unglaublich!

Da ertönt der Befehl zur Fortsetzung des Angriffs. Wir passieren eine zweite Baumsperre, die die Sowjets freiwillig aufgegeben haben. Sehr angenehm! Vor uns liegt nun eine weite Mulde mit sehr lichtem Baumbestand. Es sind alles hohe, starke Bäume. In der Mulde grasen sorglos ein paar herrenlose Pferde, die gleich von Sanitätern zum Verwundetentransport benutzt werden. Wir steigen bis zum Grund herunter und schwenken dann nach rechts ab. Ich merke, dass ich hundemüde bin.

Der Widerstand der Bolschewisten ist anscheinend vollständig zusammengebrochen. Bei ihrem Rückzug müssen sie offenbar vollständig durcheinander geraten sein, denn uns laufen immer wieder versprengte Gruppen von Rotarmisten in die Arme. Da wir keine Feindberührung mehr haben, formieren wir uns zu einer Kolonne und marschieren auf einer Schneise wie auf einem Übungsmarsch in der Heimat. Da tauchen zweihundert Meter vor uns zwei sowjetische Reiter auf. Sie kommen gerade um eine Ecke und biegen in unsere Schneise ein. Wie der Blitz verschwindet unsere Marschkolonne links und rechts im Gebüsch, während ein MG-Schütze sich mit seinem Gewehr mitten auf den Weg wirft und in Stellung geht. Die Reiter haben uns natürlich auch sofort gesehen, aber bevor sie ihre Pferde wenden können, rattert das MG los. Ein Reiter stürzt vom Pferd. Als wir dann die Stelle erreichen, ist der Russe tot. Sein braves Pferd war neben ihm stehen geblieben. Ein Sani nimmt es mit.

Der Wald nimmt kein Ende. Allerdings ist er lichter geworden, so dass man weiter sehen kann. Wir marschieren unter den mächtigen, alten Bäumen wie unter der Kuppel eines riesigen Domes. Da kommt die Meldung durch, dass unsere Spitze auf eine Ratsch-Bum-Batterie gestoßen ist, die von den russischen Artilleristen erbittert verteidigt wird. Schnell werden die Gruppen zum Angriff gegliedert, während vorn schon Gewehrfeuer aufflackert. Max Müller übernimmt die Führung. Die Wohnbunker waren schnell überrannt. Die roten Artilleristen ließen ihre Toten und Verwundeten liegen und zogen sich auf ihre Geschützstellungen zurück. Ich nahm, als Granatwerfermann, an dem Angriff nicht teil und blieb bei den Bunkern. Vor einem der Bunker sitzt ein verwundeter Russe. Er hebt bittend die Hände. Ich wechsle ein paar Worte mit ihm, aber helfen kann ich ihm nicht. Ich steige in einen der Bunker hinunter. Außer einigen Toten war nicht viel zu sehen. Auf den Pritschen lagen ein Bekleidungsstück, ein paar dieser sackartigen Beutel, die unserem Tornister entsprechen. In den Beuteln befand sich etwas Hartbrot und Stückenzucker. Hier und da noch ein Hemd oder ein Handtuch. Ein anspruchsloses Volk!

Das Infanteriefeuer flackert stärker auf. Die russische Batterie steht in einem dichten, mannshohen Kusselgelände, während unsere Landser durch lichten Hochwald heran kriechen müssen. Die Russen liegen in ihren Deckungen und schießen auf jede Bewegung. Wir haben Verluste. Leutnant Schröder, der sich schon auf der Försterei so tollkühn benommen hatte, ist natürlich wieder ganz vorn. Er war auf Wurfweite an den Iwan heran gekrochen, hatte eine Handgranate aus dem Koppel gezogen und die Zündschnur abgerissen. Als er zum Wurf ausholen will, wird die Handgranate von einer russischen Kugel getroffen und explodiert in seiner Hand. Sie reißt ihm drei Finger seiner rechten und einen Finger seiner linken Hand ab. Halb betäubt vor Schreck und ••• S. 92 •••Schock hat er sich nach hinten gerollt, wo ihn ein Mann verbindet. Dann führt man ihn zurück, und nun liegt er hier bei mir an den Bunkern. Ich bleibe bei ihm. Er ist noch fast taub. Der Wundschock ist vorbei und er bekommt Schmerzen. Ich versuche ihn zu trösten und etwas abzulenken, und er empfindet es mit Dankbarkeit.

Inzwischen ist die Batterie erobert. Es ist die, die uns in Majaki immer beschossen hat. Max Müller schreibt stolz mit Kreide an die Geschütze: Erobert durch 4./477 am 17.5.42.

Weiter geht’s. Der Wald nimmt immer noch kein Ende. Nach längerem Marsch wird es endlich heller vor uns. Wir nähern uns dem Waldrand. Kaum haben unsere ersten Gruppen ihn erreicht, da schlägt ihnen heftiges Feuer entgegen. Wir werfen uns in Deckung, um erst einmal die Lage zu peilen. Ich liege hinter einem Baum etwa zwanzig Meter im Wald, kann aber das Gelände vor mir gut übersehen. Vor dem Waldrand zieht sich eine etwa vierhundert Meter breite Mulde entlang, durch deren Grund sich ein Bach schlängelt. Die Talmulde ist flach und nur mit Gras bewachsen. Der gegenüberliegende Hang steigt stärker an und ist stellenweise ein ca. fünf Meter hoher Steilhang, hinter dem sich lichter Busch- und Niederwald ausbreitet.[6] Der ganze Rand des Steilhanges da drüben ist mit Bunker- und Erdstellungen gespickt, die wie feuerspeiende Drachen uns mit einem Hagel von Geschossen überschütten. Eine geradezu ideale Verteidigungsstellung. Die dritte Widerstandslinie der Russen: Eine ganze Kette von befestigten Feuerstellungen auf dem Rand eines fünf Meter hohen Steilhanges, z.T. von Buschwerk verdeckt. Und davor vierhundert Meter völlig freies, offenes Gelände ohne die geringste Deckungsmöglichkeit für den Angreifer. Einen Angreifer, der sich seit zwölf Stunden durch einen endlosen Wald kämpft und fast am Ende seiner Kräfte ist. Eine verdammte Situation, aber wir müssen rüber.

Unsere Schützenkompanien sind inzwischen in breiter Front am Waldrand in Stellung gegangen. Jetzt ziehen wir sämtliche verfügbaren Maschinengewehre nach vorn. Sie sind die einzigen Waffen, die uns zur Verfügung stehen. Meine Granatwerfer können wir nicht einsetzen. Die Granaten würden schon nach dem Abschuss in den Baumkronen explodieren, und wir würden von unserem eigenen Splittersegen eingedeckt. Pak und IG konnte man auch nicht durch den Wald mitschleppen.

Unsere schweren MGs beginnen, das feindliche Feuer zu erwidern. Da es ausgeschlossen ist, die befestigten Erdbunker da drüben allein mit MG-Feuer zu vernichten, bleibt nur die Möglichkeit, die Schießscharten der Bunker derart mit einem Kugelhagel einzudecken, dass der Iwan den Kopf nicht hochnehmen und daher auch nicht gezielt schießen kann, wenn unsere Infanterie angreift. Genau das tun wir jetzt. Unsere Schützenkompanien setzen zum Sturm an. In weit geöffneter Ordnung treten sie aus dem Wald auf den Wiesengrund hinaus und beginnen, ihn zu überqueren. Währenddessen wabert die Luft von dem trommelnden Dauerfeuer der zahllosen automatischen Waffen. Man hört keine einzelnen Schüsse mehr, sondern nur das helle, ratternde Auf- und Abschwellen dieses brodelnden Infanteriekampfes. Minutenlang rasseln schon die Maschinengewehre auf beiden Seiten. Da ist keine Pause, kein Nachlassen, keine Stockung, sondern nur das rasende Hämmern der Schnellfeuerwaffen wie das endlos grollende Knattern von Hunderten von Niethämmern.[7] Fünfzehn Minuten sind schon vergangen. Mit unverminderter Wut rattern die MGs, während unsere Infanteristen die flache Talmulde durchschreiten. Sie haben es nicht allzu eilig. Unter dem Schutz unseres rasenden Feuers ist die feindliche Abwehr nicht sehr stark und nicht sehr wirksam. Außerdem sind sie wohl auch müde. In aufgelockerten Gruppen, mit weitem Abstand voneinander, laufen sie hinüber. Die ersten Gruppen sind schon drüben. Die Böschung ist hier nicht so steil. Die Landser beginnen, den Hang hinaufzusteigen, um die roten Nester im Nahkampf anzugreifen. Rechts von uns hat das feindliche Abwehrfeuer deutlich nachgelassen. Einige Stellungen werden von den Russen beim Herannahen unserer Soldaten fluchtartig verlassen. Ihnen ist die Munition oder der Mut ausgegangen. Sie sind sicher demoralisiert. Kein Wunder, nach der heutigen Niederlage. Da taucht plötzlich ein russischer Panzer auf, rollt bis an den Steilhang, schwenkt sein Rohr und jagt eine Granate in die weit auseinandergezogenen Schwärme unserer Infanterie. Die Männer gehen unbekümmert weiter. Wieder spritzt eine schwarze Fontäne zwischen den Deutschen hoch. Ein Mann stürzt, steht wieder auf und geht mit blutendem Arm weiter. Ein dritter Schuss reißt neue Grasbrocken in die Luft, aber ••• S. 93 •••die Abstände zwischen den einzelnen Soldaten sind so groß, dass die Granaten in den weiten Zwischenräumen wirkungslos krepieren. Die Landser werfen sich nicht einmal zu Boden. Sie spazieren seelenruhig weiter. Nach all dem, was sie heute schon hinter sich haben, lässt sie die Panzerknallerei völlig kalt. Und sicher sind sie auch schon viel zu müde, um sich jedesmal hinzuwerfen und wieder aufzustehen.

Ich habe diese Wurstigkeit unserer Landser bei Angriffen schon öfter erlebt. Sei es nun Müdigkeit oder Faulheit. Es ist jedenfalls stärker als die Angst. Aber diese Sorglosigkeit hat uns schon viele unnötige Verluste gekostet.

Der Panzer macht kehrt und verschwindet. Der Widerstand der Roten bröckelt ab. Die Masse unserer Kompanien hat drüben den Hang erreicht und erklommen. Nun wird ein Bunker nach dem anderen mit Nahkampfmitteln niedergekämpft, erobert und besetzt. Der Widerstand der Sowjets ist gebrochen. Wer von ihnen noch laufen konnte, ist geflohen.

Eine Kampfpause ist eingetreten. Unsere MG-Kompanie hatte solange Feuerschutz gegeben und wartet nun auf den Befehl, ebenfalls die Mulde zu überschreiten. Wir liegen wartend am Waldrand. Da tauchen drüben zwei Reiter auf. Sie kommen von weit links und scheinen völlig ahnungslos. (Die Verwirrung muss heute auf russischer Seite unbeschreiblich gewesen sein.) Im Glas erkenne ich einen Offizier mit seinem Burschen. Sie kommen den Hang herunter und traben gemütlich durch den Wiesengrund auf unsere Stellungen zu. Sie sind noch dreihundert Meter entfernt, und wir wollen sie ruhig herankommen lassen. Da ballert rechts von uns so ein blödes MG los. Viel zu früh. Der Offizier wendet sein Pferd und jagt zurück, prescht den Hang hinauf und verschwindet. Sein Bursche dagegen war sofort vom Pferd geglitten und hatte sich zu Boden geworfen. Als das MG stoppt, erhebt er sich und kommt mit erhobenen Händen zu uns herüber. Hier angekommen, streckt er Max Müller die Hand zum Gruß hin. Max ergreift sie und beide schütteln sich lachend die Hand. Wir geben ihn nicht nach hinten ab, sondern behalten ihn als Fahrer bei unserem Tross. Der Iwan entpuppt sich als ganz gerissener Pfiffikus, macht sich aber sehr nützlich und bleibt sehr lange bei der Kompanie.

Unsere Kompanie kann aufbrechen und überschreitet die Mulde. Es ist Spätnachmittag. Seit vierzehn Stunden kämpfen wir uns bei drückender Hitze durch den endlosen Wald. Seit vierzehn Stunden habe ich weder gegessen noch getrunken. Jetzt, nachdem die Spannung abgeklungen ist, stellen sich Hunger, Durst und Müdigkeit ein. Ja, ich bin hundemüde, denn ich habe zwei Tage und Nächte nicht geschlafen. Nun muss ich aber erst einmal etwas trinken. Da unten ist ja ein Bach. Der dunkle Bachgrund ist schlammig und teilweise mit Schlingpflanzen bedeckt. Das fußtiefe Wasser ist etwas trübe und überspült träge die Leiche eines Rotarmisten. Stellenweise ist das Bachbett zugewachsen, und auf dunkelmoorigem Grund stehen kleine Wassertümpel. Ich zögere zu trinken. Bisher hatte ich in Russland weder Wasser noch rohe Milch getrunken. Selbst an den heißesten Vormarschtagen habe ich meine Feldflasche mit Kaffee niemals schon unterwegs leergetrunken, sondern den größten Teil bis zum Abend aufgespart. Heute aber ist sie leer. Mein Durst war zu groß und ist es immer noch. Und so beuge ich mich nieder und trinke halb angewidert, halb erfrischt von dem lauen Wasser.[8]

Unser Angriff war auf der ganzen Linie erfolgreich. Der gesamte Große Christischtscher Wald, der sich fast bis an den Donez erstreckt, ist in unserer Hand. Durch den Verlust des Waldes können die Russen auch die Dörfer Christischtsche, Siderowo und andere am Donez gelegene Orte nicht mehr halten. Sie räumen die Dörfer fast fluchtartig, so dass sie uns fast kampflos in die Hände fallen. Damit haben wir die alte, im Lauf des Winters verlorene Front am Donez wiedergewonnen.

In Christischtsche habe ich mal kurze Zeit in Quartier gelegen.[9] Nach Eroberung des Waldes habe ich einmal die Gelegenheit wahrgenommen, um meine Hasiaika[10] zu besuchen. Sie gab mir noch ein Stück Brot und einen Becher Milch.

Ich höre, dass der Leutnant und Bataillonsadjutant, der mir in Rai Gorodok so viel Ärger gemacht hat, bei dem Angriff auf den Christischtscher Wald zwischen Majaki und der Försterei gefallen ist. Friede seiner Asche.


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  1. 29.05.1942: „Müller, Lt. u. Komp.Führer“ (Soldbuch S. 22)
  2. Russland 1:100.000 Blatt M-37 111-112 bei MAPSTER
  3. 03:05 Uhr gemäß Benary S. 101. Auftakt zur großen Sommeroffensive Fall Blau/Unternehmen Braunschweig in Richtung Kaukasus (vgl. KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1805 Frame 001045). Der Angriff „Fridericus“ (I bzw. Süd) wurde nur vom Südflügel (A.Gr. von Kleist (17. A. m. XXXXIV. A.K. u. LII. A.K.) und 1. Pz.A. m. III. Pz.K.) geführt (Frame 000996), da die Sowjets mit der Frühjahrsschlacht um Charkow mitten in die Angriffsvorbereitungen des Nordflügels (6. A.) stießen. Der am 17.05.1942 vorgetragene Angriff des Südflügels war aber wirkungsgleich (KTB AOK 6 vom 27.05.42, zitiert im Beitrag im Forum der Wehrmacht; s. a. KTB OKW 1942 S. 366). Hierzu auch W. Russ S. 106 ff.
  4. Руки вверх! Hände hoch!
  5. Verstoß gegen Art. 31 des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27.07.1929, der aber nur im Falle der Nötigung ein Kriegsverbrechen wäre
  6. Die Beschreibung passt auf die Balka (Schlucht) Wissla, die auch in der Tagesmeldung der Division (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1805 Frame 001003) erwähnt wird; in der Karte fehlt allerdings der erwähnte Bach.
  7. dem Autor vertraut aus seiner Zeit in Hamburg; er hatte einst Handelsschiffsoffizier werden wollen und dazu die Seemannsschule in Hamburg-Finkenwärder besucht; in dieser Zeit und während der Reise auf dem Segelschulschiff „Padua“ hat er ebenfalls Tagebuch geführt.
  8. Diese Erzählung ekelte die Ehefrau des Autors stets, besonders weil er sie auch bei Tisch erzählte; er ließ sich aber nicht davon abhalten, sondern beteuerte höchstens, der Tote hätte doch unterhalb der Stelle gelegen, an der er trank, unterhalb!
  9. kann zeitlich zzt. noch nicht eingeordnet werden
  10. Хазяйка, Geliebte