15. August 1943
GEO INFO | ||||
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Katholische Pfarrkirche Bad Schandau | ||||
Schauplätze in der Umgebung von Bad Schandau | ||||
OKW-Lagekarte September 1943 |
15.8.43. Vor einigen Tagen hatte ich mit dem Österreicher beschlossen, am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen. Da er dann aber plötzlich keine Lust hatte, ging ich allein. Ich war etwas zu früh an der Kirche, und deshalb stellte ich mich vor der Kirche auf die Straße, um mir die Menschen anzusehen, die hier zur Kirche kamen. Da kommt eine junge Frau mit schnellen Schritten die Straße herauf. Sie hat eine Regenhaut übergeworfen und die Kapuze über den Kopf gezogen. Unter der spitzen Heinzelmännchen-Haube ••• S. 149 •••guckt ein hübsches, frisches Gesicht hervor. Sie klappert an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Dann verschwindet sie in der Kirche. Da es jetzt sowieso Zeit ist, gehe ich gleich hinterher. Sie hat sich in einer Bank gleich auf den ersten Platz am Mittelgang gesetzt, und ich stelle mich ungerührt einfach daneben, obgleich noch viele Plätze frei waren. Sie singt fleißig mit, und während sie in ihrem Gebetbuch blättert, sehe ich, dass sie einen Witwenring trägt.
Nach der Messe gehe ich ihr nach. Sie läuft furchtbar schnell. Ich habe Mühe, ihr mit meinen Reitstiefeln zu folgen. An einem Aushangkasten hole ich sie ein. Da macht sie plötzlich eine kurze, schnelle Wendung zu dem Kasten hin, um die Anzeigen zu lesen. Auf diese plötzliche Wendung war ich nicht gefasst, konnte sie nicht mitmachen und schoss an ihr vorbei. Ich musste wohl oder übel weitergehen. Aber an der nächsten Ecke bleibe ich stehen und lasse sie dicht an mir vorbei gehen, um sie noch einmal genau anzusehen. Sie ist hübsch. Also hänge ich mich wieder an ihre Fersen und hole sie am Kurpark ein. Ich spreche sie an, aber in meiner Aufregung muss ich wohl sehr undeutlich gesprochen haben (oder war ich so außer Atem?), denn sie fragt, was ich gesagt hätte. Ich wiederhole, und in dem folgenden Gespräch erklärt sie mir, dass sie das gleich beginnende Konzert besuchen wolle. Ich schließe mich an, aber sie nimmt die Treppe zum Konzertsaal wieder in solchem Tempo und rauscht mit einem Elan in den Saal, dass ich den Eindruck habe, sie will mich abschütteln. Ich bin in Uniform und kann mir in der Öffentlichkeit keinen demütigenden Korb geben lassen. So bleibe ich zunächst am Eingang stehen und beobachte sie weiter. Sie hatte Platz genommen und sieht sich plötzlich suchend um. Also hat sie wohl doch erwartet, dass ich ihr folge. Ich will aber sicher gehen und mich in Uniform keiner Blamage aussetzen. Da mein Lazarett nur wenige Häuser entfernt ist, laufe ich schnell zurück, um mir Zivil anzuziehen. In fliegender Hast kehre ich zum Konzert zurück, aber sie ist nicht mehr dort.
Meine Genesung macht Fortschritte. Zwar trage ich den Arm noch in der Binde, habe aber keine Beschwerden mehr. Jetzt ist eigentlich die schönste Phase in der Lazarettzeit. Man hat keine Schmerzen und Beschwerden mehr, kann sich frei bewegen und ist doch noch der bemitleidete, überall bevorzugt behandelte Verwundete. Trotz der schlechten Verpflegung hier in der Heimat haben sich die Körperkräfte regeneriert, Ruhe und Schlaf haben die Nerven gestärkt. Der warme Sommer und anregende Bekanntschaften fördern die neu erwachte Lebenslust. Das Genesungstemperament macht sich bemerkbar. Ein lange vermisster Bekannter stellt sich ein: Der Flirt. Er taucht jetzt öfter auf. Er wechselt die Bekanntschaften oder pflegt sie gleichzeitig. Sie sind teils harmlos, teils sehr intensiv. Ich traf ihn einmal am Talhang mit einer DRK-Schwester und häufiger mit der Angestellten des Lazarettbüros, Käthe aus Königstein.
Heute mache ich mit Leutnant Menzinger einen Spaziergang nach Rathen, wo wir uns in einer kleinen Kaffeewirtschaft an der Elbe niederlassen. Wir sitzen kaum, als ich die junge Witwe aus der Kirche bemerke. Auch sie hat mich erkannt. Wir grüßen uns. Da steht sie auf, kommt an unseren Tisch heran und fragt mich mit ihrer lebhaften Stimme: „Sind Sie nicht der Herr, der mich am Sonntag auf der Straße angesprochen hat?“ Ich weiß nicht, wie viele Gäste an den Nebentischen die Frage mitgehört haben. Eigentlich war sie nicht zu überhören. Ich wollte am liebsten im Boden versinken, aber das klappte nicht. Ich wagte nicht, mich umzusehen. So lud ich sie schnell ein, an unserem Tisch Platz zu nehmen, was sie auch tat.[1]
Und dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Wir trafen uns abends wieder auf einer Bank am Elbufer. Beim Abschied verabredeten wir ein Treffen für den nächsten Nachmittag, dort wieder für den Abend, und so ging das weiter. Einmal hatte ich eine Verabredung vergessen. Am nächsten Tag begegnete ich ihr auf einer Bank im Kurpark, wo sie neben anderen Kurgästen saß. Ich ging zu ihr hin, und sie begann sofort vor allen Leuten ein hochnotpeinliches Verhör wegen meines gestrigen Fernbleibens. Dabei sah sie mich mit ihren großen, offenen Augen strafend an. Sie hat schöne Augen, aber dieser Blick war mir sehr peinlich.
Eines Nachmittags gingen wir in ein Eiscafé. Auch Speiseeis war rationiert, aber Soldaten bekamen die doppelte Anzahl von Portionen. Meine Begleiterin nutze das schamlos aus. Sie aß vier Portionen. Es wurde mir schon peinlich, immer wieder zur Theke zu laufen. Als sie dann aber noch eine ••• S. 150: 2 Bilder; S. 151 •••fünfte Portion haben wollte, da streikte ich.
Einmal waren wir zum Abendessen in einem Hotel. Da saß so ein besserer älterer Herr mit angegrauten Schläfen und machte meiner Dame schöne Augen. Ich war drauf und dran, ihn auf die Hörner zu nehmen, aber da meine Partnerin behauptete, sie könne diesen selbstgefälligen Stutzer überhaupt nicht leiden (o. ä.), war ich einigermaßen besänftigt. Der Kerl sah nämlich gut aus. Sie will mich immer mitschleifen, wenn sie ihre Wanderungen macht. Sie läuft gern und viel und schnell, aber ich will nicht immer die Berge raufklettern. Ihr sprühendes Temperament und ihre Vitalität sind geradezu entsetzenerregend.
Ich glaube, wir lieben uns wirklich. Trotzdem gab es schon ernsthaften Krach. Es war am Tag vor ihrer Abreise, und ich hatte mir vorgenommen, sie nicht zum Schiff zu bringen. Aber das Schicksal wollte es anders, denn am nächsten Morgen blickte ich just in dem Augenblick aus dem Fenster, als Carola mit Janna[2] unten vorbei ging. Da brach mein Trotz zusammen. Ich zog eilig meinen Rock an und lief – noch unrasiert – zur Anlegebrücke, um mich doch noch zu verabschieden.
Während meiner Liegezeit habe ich übrigens das Haus einmal gewechselt. Erst wohnte ich direkt an der Elbpromenade und dann am Kurplatz.
Im Behandlungsraum des Lazaretts ist eine sehr aparte junge Frau als Hilfskraft tätig. Man munkelt, dass sie ein Techtelmechtel mit einem jungen Artillerie-Offizier hat. Ich habe mich darüber mal missbilligend geäußert, und das war ihr zu Ohren gekommen. Eines Tages legte sie mir einen neuen Verband an. Sie war außerordentlich geschickt und hatte eine sehr leichte Hand. Ich machte ihr deswegen ganz ehrlich ein Kompliment, aber sie strafte mich mit einem kalten Schweigen. Übrigens soll man nicht mit Steinen werfen, wenn man im Glashaus sitzt.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
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