Editorial

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Schon in meiner Jugend haben mich die Berichte meines Vaters aus dem Krieg fasziniert.[1] Er verstand es, packend zu schildern, nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich, wie ich feststellen konnte, als sein Kriegs-Tagebuch fertig war und ich es lesen durfte. Er hat zu Lebzeiten vergeblich versucht, es zu veröffentlichen. Erst die modernen Mittel haben es jetzt zugelassen, die Öffentlichkeit und – wie ich hoffe – auch die Sozial- und Geschichtswissenschaften an dieser Faszination teilhaben zu lassen.

Mein Vater Herbert Schrödter wurde am 1. Mai 1910 in Oberschöneweide bei Berlin (inzwischen zu Berlin gehörig) geboren. Sein Vater war Lehrer, ihm wurde dieses Schicksal ebenfalls zuteil, nachdem er sich zunächst einen Beruf an der frischen Luft gewünscht hatte, z.B. Förster, und sogar eine Laufbahn in der Handelsmarine begann, aber aus verschiedenen Gründen abbrach. Sein diesbezügliches Tagebuch ist bereits im Internet veröffentlicht. Seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer für die Fächer Französisch, Erdkunde und Leibesübungen wurde durch den Krieg unterbrochen. Nur mit Glück konnte er sie nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fortsetzen. Ein Fotoalbum im Internet dokumentiert diesen Lebensabschnitt.

Nun sollen also auch seine Kriegserinnerungen zur Veröffentlichung kommen. Neben ihrem spannenden Stil zeichnen sie sich durch detaillierte, fachkundige Schilderungen der Landschaft, intensive und doch zugleich nüchterne Kampfszenen und eine erstaunliche Anzahl amouröser Abenteuer aus. Die Anzahl wirklicher Kampftage ist überraschend gering. Der Krieg, wie er wirklich war, hat viel mehr Gesichter, als man gemeinhin annimmt. Mein Vater fand sogar, wie er öfter sagte, den Krieg gar nicht so schlimm – vielleicht weil er heil herausgekommen sei, pflegte er meist nachdenklich hinzuzufügen.

Mein Vater hält mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg. Er kommentiert mit einer gewissen, ihm eigenen Naivität den Charakter der Deutschen, die russische Seele und das Verhalten der Nazis. Er gewährt damit einen der ganz seltenen Einblicke in eine Denkweise der Zeitgenossen, die uns heute unbegreiflich ist, weil wir anders erzogen wurden und heute eine andere Kenntnis der Ge-schichte und ihrer Zusammenhänge haben. So sieht er, wie „dumm“ sich die Nazis als Besatzer in der Ukraine verhalten, ohne zu erkennen, dass System dahinter steckte. Solche Einblicke können aber zu verstehen helfen, warum sich das Naziregime so entwickeln konnte.

Die unvorteilhafte Darstellung der ehemaligen Sowjetunion in dieser Schrift ist subjektiv und entspricht dem seinerzeitigen Empfinden des Autors. Durch die Veröffentlichung ist keine Be- oder Entschuldigung von Personen oder Staaten und erst recht keine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker beabsichtigt.

Ein Leberkrebs beendete das Leben meines Vaters, der kaum Alkohol getrunken hatte, am 8. Januar 1987. Ihm war eine Laus über die Leber gelaufen: er hat sich buchstäblich zu Tode geärgert. —

Der folgende Text ist eine Abschrift der maschinenschriftlichen Abschrift, die mein Vater als Autor vom handgeschriebenen Original, das noch in Beispielseiten vorliegt, selbst gefertigt hat. Bei der Abschrift dieser Abschrift habe ich als Herausgeber mich verpflichtet gefühlt, das Original mit allen seinen stilistischen Eigenheiten zu erhalten.

Der Wechsel des Tempus zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein umstrittenes Stilelement, das meinem Vater als Autor aber sehr am Herzen lag und daher unverändert bleibt.

Bei allem Bemühen um Authentizität schien es mir jedoch unumgänglich, einige Kleinigkeiten des Originaltextes zu verändern und dabei die Rechtschreibung vorsichtig zu modernisieren. Die Schreibweise von Ortschaften wurde angepasst, wenn sie nach zeitgenössischen Quellen falsch war (die damalige russische Schreibweise weicht nochmals stark von der heutigen ukrainischen ab). Ferner betrifft es die Schreibung des -ß- als -ss-, wo es die heutige Rechtschreibung erfordert, und hin und wieder die Zeichensetzung und die Schreibweise von Maßen und Entfernungen. All diese Änderungen sind nicht besonders gekennzeichnet.

Hervorhebungen im Text, die vom Autor selbst stammen, sind fett gesetzt. Von mir als Herausgeber eingefügte Übersetzungen, Kommentare und Erläuterungen, die zum Verständnis des Textes oder zur Einbindung in einen größeren Zusammenhang erforderlich erschienen, sowie von mir im Zuge der Bearbeitung anhand von Quellen ergänzte Orte und Daten, die nicht vom Autor stammen, sind stets mit kursiver Schrift hervorgehoben, ebenso wie die Langformen der meisten Abkürzungen. Viele Begriffe, Orte oder Personen sind uns heute nicht mehr so geläufig wie damals; die Links ins Internet (vorwiegend zur Wikipedia) dienen daher nicht nur als Beleg, sondern vor allem dem besseren Verständnis, und ich hoffe, auch in Zweifelsfällen immer das Richtige getroffen zu haben. Zu militärischen Sachverhalten wie der Hierarchie der Dienstgrade oder der Gliederung der 257. Infanterie-Division habe ich besondere Übersichten angefertigt und dem Anhang beigefügt. So ist dem Leser die Möglichkeit gegeben, das Gelesene möglichst umfassend zu verifizieren, zu verorten und zu vertiefen.

Mein Vater hat sich zu einigen militärischen, politischen und philosophischen Themen ausführlicher, wiederholt oder in bezeichnender Weise geäußert. Diese Textstellen habe ich in einem Stichwortverzeichnis zusammengestellt. Die vorkommenden Personen- und Ortsnamen sowie Abkürzungen finden sich in weiteren Verzeichnissen, die Orte auch in einer eigenen Karte. Alle Fakten (Daten, Orte, Truppenteile, Kommandeure einschl. Links) werden abschließend nochmals in einer übersichtlichen Tabelle als Chronik zusammengefasst.

In den Text habe ich nur wenige Bilder eingesetzt gemäß der Auswahl, die mein Vater für sein Typoskript getroffen hat. Die Skizzen hat er, der ansonsten keine künstlerischen Ambitionen hatte, selbst angefertigt. Nachträglich von mir hinzugefügte Abbildungen aus fremden Quellen sind gekennzeichnet. Alle Bilder aus dem Fotoalbum meines Vaters sowie die Skizzen aus dem Tagebuch, nachträgliche Ergänzungen, Karten und Dokumente sind in einem separaten Fotoalbum zu finden. Ob mein Vater bei der Niederschrift seines Tagebuchs Landkarten herangezogen hat, um sich zu orientieren, ist mir nicht bekannt. Die hier und im Album gezeigten zeitgenössischen Karten habe ich selbst ausfindig gemacht und eingefügt.

Mein Dank geht an Herrn Fabian Hentschel, der die ersten 250 Seiten des originalen Schreibmaschinentextes zum Teil mit Hilfe der automatischen Texterkennung, überwiegend jedoch durch klassisch mühsames Abtippen digital erfasst hat und auf Grund dieser Tätigkeit auch noch viele für die Veröffentlichung wichtige Hinweise geben konnte. Mein ganz besonderer Dank gilt auch Herrn Alexander Rzhavin für wichtige Hinweise zu Lettland und Herrn Dmitro Torez für Informationen und viele alte Fotografien aus Slovjansk und der Ukraine.

Mein Vater wollte sein Werk übrigens nicht als Tagebuch gelten lassen und gab ihm daher den Titel
„Tagebuch-Fragmente“.

Dortmund, im Jahre 2019
Winfried Schrödter

  1. Diejenigen Episoden, die sich mir am tiefsten eingeprägt haben, sind im Stichwortverzeichnis unter „Lieblings-erzählungen“ zu finden.