5. Juli 1947
5.7. Große Arbeitsbrigaden oder auch die Zusammenfassung mehrerer kleinerer Brigaden werden als Kompanien bezeichnet. Von den 13 Offizieren in unserem Lager werden 6 als Kompanieführer eingesetzt, darunter auch ich. Nachdem der Russe 2 Jahre lang das Ansehen der Offiziere bei unseren Soldaten herabgesetzt hat, will er jetzt die Autorität der Offiziere nutzen, um die Arbeitsleistung der Brigaden zu erhöhen.
Da ich wegen meines Kräfteschwundes keine vollwertige Arbeitskraft mehr bin, werde ich im Lager als Offizier vom Nachtdienst eingesetzt. Meine wichtigste Aufgabe ist die einer Feuerwache und die Kontrolle des Hauses und der Schlafräume bei Nacht. Tagsüber habe ich frei. Nacht sitze ich unten in der früheren Pförtnerloge. Dort habe ich eine dicke deutsche Bibel entdeckt, in der ich stundenlang lese.
Sämtliche Lagerinsassen werden fotografiert. Man sagt, für eine zentrale Gefangenenkartei in Moskau. Meine Pförtnerloge ist für einige Tage bzw. Nächte zur Dunkelkammer umfunktioniert. Ich schaue beim Entwickeln der Fotos zu, und als mein Bild dran ist, lasse ich mir einen Extra-Abzug machen, den ich einige Zeit später nach Hause schickte (Foto hier).
Bei einer meiner Kontrollrunden komme ich im Morgengrauen auch auf den Hof. Da kommt ein Iwan mit einer Leiter, stellt sie an die Hauswand und holt aus einem der Mehlschwalbennester ein Jungtier heraus. Als er mich sieht, lässt er sie fliegen und fragt mich: „Jeto lutsche, karascho?“[2] Ich schüttele missbilligend den Kopf.
Wir Offiziere haben einen eigenen Schlafraum bekommen. Bisher lagen wir mit weiteren 100 Männern in dem großen Kinosaal, der fast kein Tageslicht erhält. Dort lagen wir auf völlig verlausten 3-stöckigen Holzpritschen, wo wir vor dem Einschlafen und dann noch mehrmals in der Nacht unsere Kleidung nach Läusen absuchten, bei dem schwachen Licht der dauernd brennenden Glühbirnen. Die Luft in dem Saal war völlig verbraucht.
Jetzt liegen wir 13 Offiziere in einem kleineren Raum, der ein großes Fenster nach außen hat. Der Raum ist hell, sauber und luftig. Er hat sogar Zentralheizung, die meist funktioniert. Wir sind damit auch von den Mannschaften getrennt – wie die Vorschrift es fordert.
In dem entsprechenden Raum unter uns, ein Stockwerk tiefer, liegen die WK-Leute. Denen sollte ich mal einen Vortrag halten. Ich wollte, dass auch der Lagerleiter Max Gasmann dabei ist. Er kam aber nicht, und nach längerem Warten fiel der Vortrag aus.
Ein jüdischer Kommissar besichtigt unseren neuen Wohnraum. Hämisch und ••• S. 321 •••höhnisch deutet er auf unsere über den Heizkörpern hängenden Socken und die Konservendosen, die uns als Behälter für alles mögliche dienen. Seine letzte gehässige Frage: „Ist das deutsche Kultur?“ Es war eine widerliche Type. Der hat gut reden. Erst klauen sie uns alles und plündern uns buchstäblich bis aufs Hemd aus, und dann lachen sie über unseren primitiven Ersatz. Sie stopfen die Räume mit Gefangenen voll und kritisieren dann die mangelnde Hygiene.
Ich tausche beim Lagerschneider (Antifa-Mitglied) einen Satz feiner Nähnadeln gegen eine halbe Brotration. Ziemlich schäbig. Ich hätte mehr erwartet.
Wir bekommen zurzeit als Brotbelag kleine Anchovis (Sprotten), die immer erst zurecht gemacht werden müssen. Hans Sölheim schenkt mir seine Ration immer, weil er lieber auf seiner Pritsche ruht, statt die Dinger auszupulen. Er hat einen anderen Lebensstil, als ich. Während ich meine draußen erworbene Zusatzverpflegung zurechtmache, Kartoffeln schäle, in den Heizkeller renne, um mir etwas kochen zu lassen, liegt er seelenruhig auf seiner Pritsche. Wer handelt nun kräftesparender, ökonomischer, rationeller? Das ist hier eine wichtige Frage.
Ich mache eine Bemerkung, die Herbert Wolfslast (ein sehr sympathischer ehemaliger Artillerie-Oberleutnant) völlig missversteht. Er fährt mich plötzlich an, und in meiner Verblüffung mache ich die Sache noch schlimmer. Unser Verhältnis ist dadurch getrübt.
Meine Funktion als Nachtoffizier hat noch einen Vorteil: Morgens, nach dem Abmarsch aller Arbeitskommandos, hole ich mir aus der Küche einen Nachschlag. Heute ist es Fischsuppe. Das Kochgeschirr ist randvoll. Aber es ist eigentlich nur eine Grätensuppe. Ich nehme immer einen Mundvoll Suppe, sauge die Flüssigkeit heraus und spucke die Gräten aus. Das Essen ist ja nie besonders gut, aber der Koch scheint es gut mit mir zu meinen.
Im Lager ist ein Sachse, der sich wegen seiner Verfressenheit sogar bei den Landsern lächerlich gemacht hat. Nach der Essenausgabe bleibt ja meist noch ein Rest in den Kesseln. Wer also will oder kann, holt sich noch einen Nachschlag, solange der Vorrat reicht. Dieser Sachse verschlingt nun mit unglaublicher Gier auch das heißeste Essen in Windeseile gleich in der Nähe der Küche und rennt dann nochmal an den Schalter. Er spielt übrigens auch Geige im Lagerorchester. Aber er ist unmusikalisch, spielt stocksteif, trocken und ohne Gefühl, wie eine aufgezogene Spieluhr. Als ihn ein Landser mal foppte, erwiderte er hoheitsvoll: „Du hast ja keine Ahnung, was ich schon für die Kunst getan habe!“
Wir sind wieder umgelegt worden. Wir liegen jetzt in einem größeren Raum mit 30 Männern zusammen. Neben mir auf der oberen Pritsche liegt Wolfslast. Ihm fehlt ein Strumpf. Da ich zufällig einen einzelnen übrig habe, schenke ich ihn ihm.
Das Essen ist wieder die reinste Wassersuppe. Die Folge ist, dass ich nachts dreimal austreten muss. Das bedeutet Herunterklettern von der oberen Pritsche, 2 Stockwerke herunterlaufen zur Klo-Anlage auf dem Hof und denselben Weg zurück, und dies dreimal in der Nacht.
Ich habe einen verdorbenen Magen, schlafe unruhig, muss mich immer wieder aufrichten, um zu rülpsen. Diese dauernden Unterbrechungen des Schlafes zusammen mit der Läuseplage ruinieren den Körper noch schlimmer, als die Arbeit.
Wir haben einen komischen Kauz unter den Offizieren. Er war so etwas wie Zahlmeister bei einer Polizeieinheit und gilt als Offizier. Jetzt ist er Brigadier. Er teilt gerade die Brotration für seine Brigade. Eine volle Stunde schnippelt er schon an den zehn Portionen herum und kommt nicht klar. Die Stücke werden immer kleiner. Entweder ist er zu dämlich, oder er will mogeln. Aber zwei Mann aus seiner Brigade stehen stumm und geduldig neben ihm und lassen ihn nicht aus den Augen. Er ist ein unglückseliges Unikum. Er spricht schnell und blubberig, wobei er sich dauernd verhaspelt, hat ein primitives Geistesniveau, ist ungeschickt in Äußerungen und dem Umgang mit den Kameraden, eckt daher dauernd an, macht sich lächerlich und unbeliebt. Bei einem Gespräch bittet er mich, ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn er wieder einmal sich so komisch benehmen sollte. Ich brauchte auf solche Gelegenheit nicht lange zu warten. Als ich ihn wunschgemäß auf sein Verhalten hinwies, da faucht er mich wütend an: „Jetzt fängst du auch schon an, auf mir rumzuhacken!“ So ist das! Ich nehme mir vor, nie wieder jemand einen solchen Freundschaftsdienst zu erweisen.
••• S. 322 •••Ein Offiziers-Kamerad, im Zivilberuf Volksschullehrer, bemalt die RK-Karten mit hübschen kleinen Motiven. Dafür zahlt man ihm ein kleines Entgelt. Ich gucke ihm das ein bisschen ab und bemale dann meine Karten selbst, um sie Carola zu schicken. 2 Originale sind noch vorhanden.[3]
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ Sommer 1947 gem. rückseitiger Beschriftung des Fotos, Juli gem. Einordnung und Beschriftung im Tagebuch-Text oder August, wenn es das Foto ist, das auf der Rotkreuzkarte vom 20.01.1948 als im Lager gemacht erwähnt wird – und der Monat damals, immerhin ein halbes Jahr nach der Aufnahme, noch richtig angegeben war
- ↑ Er sagte wahrscheinlich: „Я отпущу, хорошо?“ Ich habe losgelassen, gut?
- ↑ In der Sammlung gibt es drei bemalte Karten, vom 10.08. und 15.11.1947 an seine Frau Carola, die aber wohl noch von dem genannten Kameraden bemalt wurden, wie der Autor in einer späteren Karte erläutert, und vom 25.03.1948 an seine Eltern; letztere hat er ausdrücklich als selbst bemalt bezeichnet.