2. August 1942

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Inhaltsverzeichnis

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English
GEO INFO
Bahntransport Slawjansk–Barwenkowo–Losowaja–Charkow–Desna-Brücke bei Vitemlja–Gomel Karte — map Karte — map Karte — map Karte — map Karte — map Karte — map
Partisanenüberfall –Bobruisk–Minsk[1] Karte — map Karte — map
–Baranowitschi–Warschau–Neuhammer Karte — map Karte — map Karte — map

Wir sind wieder in Slawjansk.[2] Das Bataillon wird im Südwesten[3] der Stadt untergebracht, in der Nähe des Bahnhofs. Schräg gegenüber, jenseits des breiten Bachgrundes, liegt das kleine Dorf[4], von dem aus wir nach Krassnoarmeisk eingedrun••• S. 104 •••gen waren. Das war damals in den harten Winterkämpfen, als Slawjansk noch eine Festung und von drei Seiten eingeschlossen war.

Heute ist die Stadt tiefste Etappe. Alle möglichen Goldfasane und braune NS-Bonzen tänzeln wie gespreizte Pfauen durch die Straßen. Uniformen, die ich nie gesehen habe. In ihren Dienststellen wimmelt es von Drückebergern, die alle für ihren Führer sterben wollen, aber leider alle hier unabkömmlich sind, hier hinten in der Etappe. In ihren Dienststellen arbeiten viele hübsche russische Mädchen, aber angesichts dieser Vertreterinnen der russischen „Untermenschen“ vergessen sie ihren ganzen angelernten Rassendünkel. Als wir die Stadt im letzten Winter bei eisiger Kälte gegen die Zangenangriffe der Roten Armee in blutigen Abwehrkämpfen verteidigten, waren diese Helden nicht hier. Jetzt aber machen sie sich breit wie der Kuckuck im Singvogelnest. Sie erlassen Bestimmungen, Verordnungen, Verbote, ergreifen Zwangsmaßnahmen, benehmen sich wie der Elefant im Porzellanladen und machen sich bei Freund und Feind noch unbeliebter, als sie ohnehin schon sind. Sie untergraben die freundlichen Sympathien, die bisher trotz allem den Deutschen, den Soldaten, entgegengebracht worden sind. Und wenn man so einem aufgeblasenen Frosch auf der Straße begegnet, macht er noch Stielaugen, weil man ihn nicht grüßt. Zweifellos gibt es unter ihnen auch sehr vernünftige Leute, aber sie sind nicht in der Lage, der Organisation ein anderes Gesicht zu geben. Und so haben es – wie immer in der Welt – die Lauthalsigen, Großmannssüchtigen und Intriganten zu sagen, denen außer ihrem nassforschen Auftreten jegliche geistige Qualifikation und jedes psychologische Gespür fehlt, um ein fremdes Volk zu verstehen und richtig zu behandeln. In den Osten hätte man die fähigsten Köpfe schicken müssen, aber nicht die, die man im Altreich wegen ihrer Unbrauchbarkeit loswerden wollte.[5]

Wir führen ein Faulenzerleben und stehen in Turnhosen mit nacktem Oberkörper auf den dörflichen Straßen dieser Stadtrandgegend herum. Man munkelt, dass wir verladen werden sollen und vielleicht nach Frankreich zur Erholung kommen.

Ich stehe mit Max Müller und einem Feldwebel vor dem Quartier des Feldwebels. Da kommt die Frau vorbei, die ich vor Monaten mal durch die Stadt begleitet hatte, die mich aber nicht bis zu ihrem Haus mitkommen lassen wollte. Sie ist in Begleitung einer anderen Frau und so im Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht sieht. Hier wohnt sie also!

Seit einigen Tagen bemerke ich, dass meine Butterration immer kleiner wird, obgleich ich kaum davon esse. Mein Verdacht fällt auf die zwölfjährige Enkelin meiner Hasiaika. Es ist dieselbe Situation wie in Dimitrijewka mit den Zigaretten. Ich gehe zu unserem Sani, um mir ein Abführmittel geben zu lassen. Ich will es unter die Butter mischen, und so den Dieb überführen. Aber es misslingt, weil sich die Butter verfärbt, und der Dieb gewarnt ist. Daraufhin erzähle ich es der Babuschka, die das Mädchen sofort furchtbar beschimpft, sich entschuldigt und mir ein paar Kilo Kartoffeln als Wiedergutmachung anbietet. Ich verzichte aber darauf, denn die Leute haben selbst nicht viel zu essen.

Auf dem Nachbargrundstück stehen zwei Häuser. In dem größeren wohnt ein Mann. Das andere ist klein wie ein Puppenhäuschen und wird von einer jungen Frau bewohnt. Mitten im Hof steht ein Brunnen mit einer Bank. Ich sitze gerade auf dieser Bank, als die junge Frau herantritt, um Wasser zu holen. Wir kommen ins Gespräch, und sie erzählt mir, dass ihr Mann bei der Roten Armee sei, aber seit Jahr und Tag nicht mehr geschrieben habe. Sie weiß nicht, ob er lebt, tot oder gefangen ist. Ich frage sie beiläufig, ob sie sich nicht dem Mann im Nebenhaus angeschlossen habe. Sie wehrt ab: „Das ist doch mein Schwager! Ja, wenn es nicht mein Schwager wäre...“ Von jetzt an treffe ich mich ein paarmal mit dieser Frau, abends nach dem Dienst. Sie scheint über diese wohl lange entbehrte Abwechslung recht froh zu sein. Einmal waren wir in dem nachtdunklen Garten, der sich an den Hof anschließt und in dem viele Kirschbäume stehen. Ein andermal gingen wir abends in ihr kleines Häuschen, das nur Küche und Stübchen hat. Der Schwager beobachtet uns. Er schöpft einen gewissen Verdacht, und sagt es mir auch. Ich winke natürlich ab. Hat er wirklich geglaubt, dass ich plaudern würde?

Die Gerüchte, dass wir nach Frankreich kommen, scheinen sich zu bewahrheiten. Laut Divisionsbefehl sollen wir unsere gesamte Reservemunition im Rahmen von ••• S. 105 •••kleinen Übungen verschießen, damit wir sie nicht mitschleppen müssen.

Heute üben wir einen Angriff auf kurze Entfernung. Ich unterstütze den Angriff der Schützenkompanie mit Granatwerfern. Zuerst schieße ich Brisanzgranaten, die genau und richtig vor der Schützenlinie liegen. Kurz vor dem „Einbruch in die feindlichen Stellungen“ verstärke ich das Feuer und benutze auch Springer. Das sind Granaten – so hieß es – mit Doppelzünder, die nach dem Aufschlag noch einmal hochspringen und in ca. zehn Metern Höhe explodieren. Sie haben dadurch eine größere Splitterwirkung. Das bedeutet, dass man eine weitere Entfernung einstellen muss, um die eigenen Leute im Angriff nicht zu gefährden. Natürlich muss man das vorher bedenken. Ich aber bemerkte es erst, als ich durch mein Fernglas beobachte, wie die Männer da vorne die Köpfe einziehen und sich an den Boden drücken. Glücklicherweise ist nichts passiert. Meine einzige schwache Entschuldigung ist, dass ich erstmalig mit dieser Neukonstruktion schieße. Man muss immer erst durch schlechte Erfahrungen klug werden.

Ein weiterer Lapsus passierte mir am letzten Übungstag. Mein Granatwerferzug steht auf einem Hügel und soll eine unten in der Mulde liegende Kolchose beschießen. Die Werfer schießen einzeln, bis die Bodenplatte festgeschossen ist. Das Einschießen erfolgt auf einen Punkt, der abseits vom Gehöft liegt, um den Gegner nicht aufmerksam zu machen. Es folgen noch einige Zielwechsel, um Störfeuer vorzutäuschen. (Es gibt noch andere Methoden des Einschießens.) Dann folgt eine Zusammenfassung des Feuers auf die Kolchose als Vernichtungsfeuer. Die Granaten sämtlicher sechs Werfer prasseln in die Kolchose. Wie rollender Donner schlagen die Explosionen in die Gebäuderuinen. Erst mitten hinein, dann werden sie immer kürzer und liegen schließlich vor dem Ziel. Die Bodenplatten hatten sich bei dem Dauerfeuer doch noch tiefer in den Boden gerammt, als ich vermutete. Ich hätte nun kurz „stopfen“ (das Feuer einstellen) lassen müssen, um die Entfernung zu korrigieren. Mir altem Granatwerferhasen hätte so etwas nicht mehr passieren dürfen. Man lernt eben nie aus. Bei der anschließenden „Manöverkritik“ kam dann auch, was kommen musste. Der Bataillonsführer, Hauptmann Degener, erklärt: „Das Schießen der Granatwerfer bedarf noch der Übung“, und dabei sieht er mich mit einem Blick an, als wenn er sagen wollte: Das war nicht besonders, mein Freund, Du hast schon besser geschossen!

Transport nach Frankreich

Bahnhof Slawjansk
Bahntransport von der Ostfront nach Frankreich zur Auffrischung[6]

Die Waggons sind da! Das Regiment beginnt zu verladen.[7] Unser Bataillon macht den Anfang. Der Bahnhof ist ein kleiner, zweigleisiger Kopfbahnhof. Gegen Mittag ziehen die ersten Einheiten zum Bahnhof und gehen dort unter Bäumen und zwischen den wenigen Gebäuden in Fliegerdeckung, während die eingeteilten MG-Gruppen ihre Stellungen beziehen, um während des Verladens den Fliegerschutz zu übernehmen. Dann rücken wir kompanieweise auf den Bahnsteig. Die Mannschaften werden auf die Waggons verteilt, legen dort ihr Gepäck ab und gehen dann gruppenweise zu ihren Fahrzeugen, um beim Verladen zu helfen. Zwischen Bergen von Waffen und Geräten beginnt nun ein emsiges Treiben. Im Pendelverkehr schleppen die Soldaten Stück für Stück in die Waggons. Andere Gruppen schieben die Fahrzeuge auf die Plattenwagen. Vorn bei den ersten Waggons stehen die Pferdekoppeln zwischen hohen Mauern von Strohballen. Die Fahrer bringen Pferd nach Pferd in die Waggons. Manche Tiere sind nervös und erschrecken, wenn sie auf den hohl klingenden Steg zwischen Bahnsteig und Waggon treten. Mit großer Geduld gelingt es aber, sie mit verdecktem Kopf oder rückwärts oder mit anderen Kniffen in den Waggon zu bringen. Unsere Fahrer verstehen ihr Handwerk. Es läuft alles ohne Stockungen. Durch die Luft hallen Rufe, Kommandos und das lärmende „Hau-ruck“ der arbeitenden Männer. Sie haben wohl selten mit soviel Hingabe geschuftet. Auf den Plattenwagen werden die Fahrzeuge mit lauten Hammerschlägen festgekeilt und dann festgezurrt.

Abends sind wir fertig. Die Zugwache ist eingeteilt und ein weiteres Kommando zur Partisanenbekämpfung bereitgestellt, das sich um das Bahnhofsgelände verteilt. Wir sind abfahrbereit. Ich liege mit 26 Mann meines Zuges in einem Güterwagen. Wir haben uns auf das Strohpolster gestreckt und warten auf die Abfahrt. Aber Stunde um Stunde vergeht, ohne das etwas geschieht. Schließlich schlafen wir ein.

Gegen Morgen erwache ich von einem Rucken. Ein leichtes Schüttern geht durch den Zug, und dann setzt er sich langsam in Bewegung. Wir verlassen Slawjansk. Die Stadt, in der wir so viele Erinnerungen zurücklassen. Erinnerungen an blutige Kämpfe, eisige Winter, gute und böse Menschen und liebe••• S. 106 •••volle Erlebnisse. Und wäre die Freude über die Rückkehr in die Heimat nach so langer Zeit nicht so sehr groß, könnte sich wohl ein bisschen Wehmut in den Frohsinn mischen.

Es ist 4 Uhr morgens. Der Zug fährt gerade an der kilometerlangen Häuserzeile von Krassnoarmeisk entlang. Noch einmal werden die Erinnerungen an die gefährliche Zeit lebendig, die wir dort drüben verbracht haben. Damals war eiskalter Winter, und wir schlugen uns in blutigen Kämpfen mit dem Iwan herum, wobei ich mir das EK II verdiente. Heute liegt heiße Sommerluft über dem grünen Land, nur die Ruinen des Dorfes erinnern an die böse Zeit. Jetzt sehe ich auch erst, wie groß das Dorf ist, und wie klein der Teil, den wir damals besetzt hielten. Es kann aber auch sein, dass der westliche Ort schon ein anderes Dorf ist.[8]

Barwenkowo VI.42

Barwenkowo und Losowaja sind passiert. Der Zug hat seine Reisegeschwindigkeit erreicht, und nun rollen und klopfen die Räder in monotonem Rhythmus. Es ist Musik in unseren Ohren! Ich habe mir einen Platz auf dem Fahrersitz eines HF1 ausgesucht, und von diesem bequemen Hochsitz habe ich einen weiten Blick über das Land. Andere Kameraden sitzen in der offenen Waggontür, lassen verbotenerweise die Beine herausbaumeln und gucken mit blanken Augen in das vorüberfliegende Land. Wie ein bunter Teppich breitet sich die fruchtbare Landschaft des Schwarzerde vor unseren Augen aus. Zwischen grünen und braunen Flächen dehnen sich die wogenden Felder goldgelben Weizens. Von Zeit zu Zeit leuchten in der Ferne die weißgetünchten Häuschen eines Dorfes auf. Und über diesem fruchtschweren Land gleißt eine strahlende Sommersonne. Es ist heiß, aber der Fahrtwind bringt milde Kühlung. So rollen wir glücklichen Herzens durch das lichtdurchflutete Land der lachenden Ukraine.

Auf größeren Stationen halten wir zum Lokwechsel und zum Tränken der Pferde. Dann steigen auch Zivilisten zu, meist Frauen und Mädchen, die mit Körben und Bündeln zum nächsten Marktort mitfahren, um dort ihre Eier, Gurken, Butter, Mehl, Gemüse und sonstiges zu verkaufen. Gegen Abgabe einiger Eier nehmen wir sie gern mit, und sie sind froh, den weiten Weg in der Hitze nicht zu Fuß machen zu müssen. Leider werden einige von ihnen beim Aussteigen auf dem nächsten Bahnhof von deutschen Bahnpolizisten festgenommen. Ob dieser Handel verboten ist, oder ob man sie nur kontrollieren will, oder ob die Polizisten nur ihren Obolus kassieren wollen, weiß ich nicht. Maßnahmen der Zivilverwaltung![9]

Einmal wird es noch kritisch mit unserem Schicksal. Hinter Charkow wird es sich entscheiden, ob wir weiterfahren, oder an eine brennende Frontstelle geworfen werden. Wir möchten das Schicksal unseres Schwesterregiments nicht gern teilen, das eine Woche vor uns verladen worden war, und ebenfalls nach Frankreich verlegt werden sollte. Aber bei Rschew wurde es plötzlich ausgeladen und in die Schlacht geworfen. Da schlägt es sich heute noch herum.

Desna-Brücke bei Vitemlya ca. 2014

Wir haben die Desna erreicht. Mit dumpfem Rollen fährt unser Zug über die Brücke[10], aber unter uns dehnen sich weite, grüne Wiesen, aus den sich die massigen Brückenpfeiler erheben. Diese Wiesenflächen zu beiden Seiten des Flusses sind kilometerbreite Überschwemmungsstreifen, die der Fluss bei Hochwasser überflutet. Jetzt sind sie teils trocken, teils sumpfig und stellenweise mit Buschwerk bewachsen. Nur hier und da glitzert in den grünen Flächen ein kleiner Wassertümpel oder das schmale Silberband eines toten Flussarmes. Die Brücke scheint kein Ende zu nehmen. Nach langer Zeit überqueren wir endlich den Strom, der breit und flach, von vielen Sandbänken durchsetzt, unter uns dahin strömt. Noch einmal rollen wir über die weiten Flussauen der anderen Seite, und dann haben wir endlich das Stromtal überquert. Welch ein Hindernis für den Verkehr! Ein solches verwildertes Stromtal kann beinahe eine natürliche Grenze sein.

Wir vermuten, dass wir nachts durch Gomel gefahren sind. Jetzt rollen wir auf Minsk zu. Das Landschaftsbild hat sich inzwischen völlig verändert. Das Ackerland ist weitgehend verschwunden. Der Wald beherrscht das Landschaftsbild. Stunde um Stunde, Tag um Tag rollen wir durch schier endlose waldige Gebiete. Einmal ist es undurchsichtiger Birken- und Eichenhochwald, der wie eine Mauer aus grünem Laub an uns vorüberzieht. Das wuchernde Unterholz macht diesen Urwald schwer zugänglich. Dann wieder folgen lichte Sumpfwälder. Ausgedehnte, schüttere Baumbestände wechseln mit Stangengehölzen und Buschwerk oder weiten Lichtungen. Moore und Sümpfe unterbrechen ••• S. 107 •••den Wald. Auch ein Waldbrand hat ein Loch in den Wald gefressen. Nur selten lichtet sich der Wald, um einer menschlichen Siedlung Platz zu machen. Blockhäuschen mit Schindeldächern. Grau und braun sind diese Katen, wie die Farbe des Waldes und der Erde. Sie heben sich kaum von der Umgebung ab. Bescheiden ducken sich diese Dörfchen mit ihren spärlichen Ackerflächen zwischen den allmächtigen Wald. Es gibt aber auch größere Dörfer, die inmitten großer Rodungsflächen liegen und ausgedehnte Ackerflächen besitzen. Hier hat der Mensch den Kampf mit dem Wald aufgenommen, hat ihn in weitem Umkreis gerodet und große Felder geschaffen, über die Pferdepflüge und Traktoren ihre Furchen ziehen.

Im großen und ganzen aber ist es ein unerfreuliches, schwer zugängliches Gebiet, in dessen endlosen Wäldern sich zahlreiche Partisanenbanden versteckt halten und unsere Nachschubwege bedrohen. Daher ist der Wald rechts und links der Bahngleise stellenweise bis zu einhundert Meter Breite niedergeschlagen, um Sabotagetrupps die Annäherung zu erschweren. Außerdem liegen an der ganzen Strecke entlang in größeren Abständen Bunker und Stützpunkte mit deutschen Besatzungen, die dann Patrouillen an den Gleisen entlang schicken. Darüber hinaus stehen an besonders gefährdeten Stellen noch russische Zivilisten als Doppelposten in zweihundert Metern Abstand, auf die aber sicher kein Verlass ist. Alle diese Maßnahmen haben aber wenig Erfolg, denn die Waggontrümmer, an denen wir immer wieder vorbeifahren, zeugen von zahlreichen gelungenen Sabotageakten.

Unfreiwilliger Halt. Partisanen haben die Gleise gesprengt. Sicherungstruppen gehen vor, um den Zug abzuschirmen.

Wir befinden uns hundert Kilometer ostwärts von Minsk. Der Zug schleicht mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit von nur 4 km/h durch den Wald. Der Morgen graut, aber alles schläft noch, als der Zug plötzlich von zwei gewaltigen Stößen gerüttelt wird. Ich springe auf, reiße die Abteiltür auf und blicke am Zug entlang. Überall springen schon Soldaten heraus und rennen über den Kahlschlag zum Waldrand hinüber, um zu sichern. Ich laufe am Zug entlang nach vorn und sehe nun die ganze Schweinerei: Der Zug ist auf Minen gelaufen! Die Lok ist die Böschung hinuntergestürzt, liegt auf der Seite und bläst zischend und pfeifend Dampf ab. Es hört sich an wie das Röcheln eines Urtieres. Lokführer und Heizer sind unverletzt, sie konnten rechtzeitig abspringen und stehen nun mit geschultertem Karabiner vor ihrer umgestürzten Lok. Auch die beiden vordersten Waggons sind umgekippt. In beiden Wagen sind Pferde, die sich unbegreiflicherweise völlig ruhig verhalten. Sie waren alle unverletzt. In der Mitte des Zuges sind zwei Mannschaftswagen ineinander geschoben. Sie haben sich aufgebäumt und sind dann zur Seite gekippt, so dass sie wie ein Dreieck auf den Schienen liegen. Hier hat es einen Toten und drei Verletzte gegeben. Der Tote ist Sudetenländer. Die russischen Streckenwächter stehen gleichgültig dabei. Wenn man ihnen Vorwürfe macht, zucken sie nur mit den Schultern. Seit der Explosion sind keine drei Minuten vergangen. Unsere „Sicherungstrupps“ haben den Waldrand erreicht. Da bietet sich wieder ein Bild, das typisch ist für den Leichtsinn der Landser: Am ganzen Waldrand entlang hocken sie in langer Kette mit heruntergelassenen Hosen. Für sie existieren weder Partisanen noch Überfallgefahr. Das „Geschäft“ ist wichtiger.

Ich höre vom Lokführer, dass ein Hilfszug aus Minsk angefordert ist. Bis zu seinem Eintreffen können aber zwei bis drei Stunden vergehen. Wir beginnen nun sofort mit der Befreiung der Pferde. Die Tiere verhalten sich geradezu vernünftig, so dass wir sie alle in kurzer Zeit unverletzt befreit haben. Dann holen wir das Gepäck aus den zerstörten Mannschaftswagen. Nach einiger Zeit trifft auch schon der Hilfszug ein. Der bullige Traktor des Hilfszuges wird vor die Lok gekoppelt, springt mit brummendem Motor an und zieht die Lok wie ein Spielzeug von der Böschung herunter. Dasselbe macht er mit den Waggons, und nach kurzer Zeit ist alles weggeräumt. Dann setzt sich eine Ersatzlok vor den Zug, und um 12 Uhr mittags rollen wir weiter.[11]

Der Partisanenkrieg ist fast ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Diese Partisanen sind fanatische, brutale, für den Heckenkrieg besonders geschulte Feinde. Sie sind weit gefährlicher als die Soldaten der Roten Armee. Erschwerend für uns kommt hinzu, dass sie als Zivilisten ja gut „getarnt“ sind, dass sie in den endlosen, oft sumpfigen Wäldern, die sie gut kennen, kaum zu fassen sind, und dass uns diese Methoden des hinterhältigen Heckenkrieges unbekannt sind und uns auch wesensmäßig nicht liegen. Der Russe ist aber durch Charakter, Erfahrung und Ortskenntnis ein Meister auf diesem Gebiet.

••• S. 108 •••Bald haben wir Minsk erreicht. Hier wird das ganze Ereignis nochmals mit dem deutschen Bahnpersonal besprochen, das auf diesem Gebiet schon allerhand erlebt hat. Einer von ihnen trägt ein Ordensband, das wir noch nicht gesehen haben: Die Medaille für die Winterschlacht im Osten 1941/42. Die bekommt jeder, der im Winter 1941/42 in Russland war. Die Eisenbahner haben sie schon, wir Frontkämpfer noch nicht.[12]

Der Güterbahnhof von Minsk wird im Süden von einer fast zwanzig Meter hohen steilen Böschung begrenzt. Oben liegt eine Siedlung, deren Häuser bis fast an den Steilrand heranreichen. Da wir wegen des Lokwechsels noch Zeit haben, klettern wir die Böschung hinauf und können von hier das ganze umfangreiche Gelände des Güterbahnhofs übersehen.

Weiter geht’s. Die nächste große Station ist Baranowitschi. Wir nähern uns dem polnischen Siedlungsgebiet. Das Landschaftsbild beginnt sich merklich zu verändern. Wir rollen aus dem Waldgebiet allmählich in offenere Landschaften. Das Ackerland gewinnt an Ausdehnung. Aber es sind nicht mehr die eintönigen, unübersehbaren Riesenfelder Russlands, sondern kleinere Äcker, die rechtwinklig aneinander gefügt sind. Oft sind sie lang und schmal wie Handtücher. Weideflächen und grüne Wiesen wechseln mit braunen Ackerfluren ab. Wohl dehnen sich noch riesige Wälder, aber das Land zeigt schon eine stärkere Gliederung. Es ist vielfältiger bebaut. Die Dörfer werden zahlreicher. Die Straßen sind schon häufiger gepflastert. Sie werden beiderseits von Baumreihen flankiert und beleben das Landschaftsbild. Die Menschen treten häufiger in Erscheinung. Die Mädchen tragen Schleifen, und die Frauen Kämme im Haar. Menschen und Landschaft haben sich geändert. Aus der Naturlandschaft der russischen Waldwildnis kommen wir in polnisches Kulturgebiet.

Rastlos rollen unsere Räder. Ihr Rattern und Stampfen klingt uns wie Musik. Es geht westwärts! Vor Warschau müssen wir eine Zeit lang halten, und dann fahren wir durch die schönen westlichen Vororte der Stadt, von den polnischen Mädchen teils kalt ignoriert, teils mit freundlichem Winken gegrüßt.

Bahnhof Ostlager Neuhammer (2018) (Quelle)

Wir haben deutschen Reichsboden erreicht. Langsam rollt der lange Zug in den kleinen Güterbahnhof ein und hält dann mit einem leisen Ruck. Wir stehen in Neuhammer/Schlesien[13]. Ich steige aus und setze meinen Fuß betont und nachdrücklich auf den Boden. Nach langer und gefährlicher Zeit stehe ich wieder auf deutscher Heimaterde. Es ist ein unaussprechlich herrliches Gefühl. Die Seele singt und jubelt. Heimat ist Geborgenheit.

Es wird allerlei gemunkelt. Wir sollen erst mal hier bleiben, wir sollen gleich nach Frankreich. Aber niemand weiß etwas Genaues. Jedenfalls schickt man ••• S. 109 •••erst einmal einen ganzen Schwarm von Soldaten in den Urlaub, gleich von der Rampe weg. Nach einer Stunde sind alle verschwunden.

Ich gehe zunächst einmal auf die Suche nach einem Telefon, denn ich will zuhause anrufen. Neben dem Bahnhofsgelände liegt ein großes Sägewerk, in dessen Büro ich eintrete. Hier ist ein Telefon, das mir bereitwillig zur Verfügung gestellt wird. Ich melde ein Ferngespräch nach Berlin an, und zwanzig Minuten später klingelt es. Ich nehme den Hörer ab und melde mich. Und dann antwortet in der Muschel die vertraute Stimme meiner lieben Mutter. Sie ist gewaltig überrascht und hocherfreut. Ich erzähle ihr ganz kurz, wo ich bin, und dass ich wohl bald in Urlaub kommen werde. Dann hänge ich ein, damit es nicht so teuer wird[14], wenn man mich schon freundlicherweise umsonst telefonieren lässt.


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  1. Zwischen Bobruisk und Minsk lag der berüchtigte „Partisanenwald“, in dem vermutlich der Zug überfallen wurde (vgl. Benary S. 107).
  2. am 02.08. gem. Benary S. 105
  3. im Original „Südosten“, was nicht zu Bahnhof, Bachgrund und Dorf passt
  4. Andrejewka, vgl. 11.3.42
  5. Kritik dieser Art wurde sogar von zuständigen Stellen an das OKW gemeldet (s. z. B. KTB OKW 1943 S. 1424 f.), aber die offizielle Politik hat sich dadurch natürlich nicht geändert.
  6. Das Foto stammt evtl. von einem anderen, ähnlichen Transport, jedoch jedenfalls aus dem Bereich des XXXXIV. Armeekorps, zu dem die 257. Infanterie-Division damals gehörte.
  7. Datum nicht zu ermitteln, da die Division ab 29.07. sech Tage lang mit je 1 Zug, dann 6 Zügen pro Tag abtransportiert wurde (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 000936). Am 06.08. fuhr z.B. ein Transportzug mit Divisionsstab, Stab Nachrichtenabteilung, leichter Nachrichtenkolonne und Feldgendarmerietrupp um 13.40 Uhr aus Slawjansk ab (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 000939); er wurde festlich verabschiedet.
  8. Der Autor hat sich nicht getäuscht: Krassnoarmeisk ist annähernd 6 km lang.
  9. Der Gedanke, dass Zivilisten – zumal des Feindstaates – in einem Militärzug nichts zu suchen haben, kam dem hilfsbereiten Autor nicht!
  10. vermutlich die Brücke bei Vitemlya. Es gibt fünf Brücken an geeigneten Bahnlinien:
    1. bei Tschernihiv (500 m lang); die Großstadt hätte sicher Erwähnung gefunden, und die 3 km breite Flussniederung liegt nur südlich, nicht wie im Text erwähnt auch nördlich
    2. bei Makoschyne (300 m); die vielleicht noch erwähnenswerte Ortschaft liegt unmittelbar an der Brücke, der Fluss ist tief eingeschnitten ohne die im Text erwähnte Flussniederung; allerdings liegt sie an der direkten und damals einzigen zweigleisigen Strecke von Charkow nach Minsk, vgl. Hinze S. 17
    3. bei Pyrohivka (500 m); der Fluss ist auch hier tief eingeschnitten ohne Flussniederung
    4. bei Vitemlya; die eigentliche Brücke ist zwar nur 300 m lang ist, aber mitsamt den anschließenden Bahndämmen wird eine eindrucksvolle, 3 km breite Flussniederung überquert
    5. bei Wygonitschi nahe Brjansk, 250 m lang mitten in einer gut 3 km breiten Flussniederung; diese Strecke wäre aber ein Umweg
    Aufgrund der Beschreibung kommen nur die beiden letzten in Frage. Wegen des Umwegs bei Nr. 5 ist Nr. 4 die wahrscheinlichste.
  11. Die Gegend zwischen Bobruisk und Minsk war als „Partisanenwald“ berüchtigt (Benary S. 107).
  12. Die Verleihung ist mit Datum 25.07.1942 im Soldbuch eingetragen. Da der Autor bis hierher noch nichts davon erwähnt, zeigt, dass der Eintrag zurückdatiert wurde.
  13. mit Sicherheit ist der Truppenübungsplatz Neuhammer (bei Neuhammer am Queis) gemeint, der auf der Ostseite einen kleinen Rangierbahnhof besitzt
  14. Eine lebenslange Unart meines Vaters, der sogar seltene, fast nur Weihnachten stattfindende Ferngespräche mit seinem Bruder abbrach, „damit es nicht so teuer wird.“