11. Oktober 1940

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

Polski
English

Ich bin zur 8. Kompanie des Infanterieregiments 477[1] nach Jasło versetzt. Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Zug dorthin und melde mich auf der Schreibstube, die in einem Schulgebäude am Markt¬platz untergebracht ist. Als ich den Raum betrete, erhebt sich der Hauptfeldwebel[2] von seinem Tisch. Wir sehen uns an und stoßen laute Überraschungsrufe aus. Der Spieß ist Fritz, mit dem ich zusammen in Brandenburg als Unteroffizier gedient habe. Nachdem wir uns genügend ausgeplaudert haben, weist er mir mein Quartier an, das ich gleich aufsuche. Es ist im Hause eines polnischen Lehrers in der Piotra Skargi 13. Der Hausherr führt mich in eine ausgebaute Kammer auf dem Dachboden. Es ist ein sehr bescheidenes Stübchen mit alten Möbeln und einem gardinenlosen Fenster. Vermutlich hat es frü¬her dem drallen Dienstmädchen als Schlafraum gedient. Mit unbewegtem Gesicht und einem kurzen, deutsch gesprochenen Satz weist mich der Pole ein, wendet sich brüsk um und geht. Später, bei kurzen Begegnungen, wurde er etwas zugänglicher, ohne jedoch seinen Deutschenhass abzulegen. Seine Frau ist eine stille, bescheidene, freundliche Person.

Eines Tages fragt mich der Lehrer, wie lange ein Krieg gegen Russland wohl dauern würde. (Es war noch gar keine Rede von einem Krieg gegen die Sowjetunion!) Ich meinte, vielleicht ein halbes Jahr. „... und Amerika?“ war seine zweite Frage. Ich zuckte die Schultern, und er lachte nur kurz auf. Die Polen hören trotz Verbots und konfiszierter Radios die ausländischen Sender ab und wissen besser Bescheid als wir.

Zu dem Lehrerhaushalt gehört dann noch das besagte, scheinbar etwas beschränkte Dienstmädchen. Aber was die Natur ihrem Geist vorenthalten hat, das hat sie an ihrem Körper wieder gutgemacht.

Außerdem wohnt im Erdgeschoss noch eine Juristenfamilie[3]. Durch den Krieg von Tarnow (?) nach Jasło verschlagen, wohnen sie hier zur Miete. Der Vater ist schon lange tot.[4] Die Mutter ist eine sehr kultivierte und liebenswürdige alte Dame, die von ihren beiden bildschönen Töchtern betreut wird. Der älteste Sohn ist im Feldzug gegen uns gefallen. Der zweite Sohn, den ich nie gesehen habe, ist Angestellter einer Erdölfirma. Von den beiden Töchtern ist die ältere verheiratet. Der Mann wohnt mit im Haus, ist aber fast nie zu sehen. Er ist in einer Marmeladenfabrik beschäftigt. Die Ehe ist nicht glücklich. Die jüngere Schwester ist Sportlehrerin mit einer fantastischen Figur. Sie hat im Krieg ge¬gen uns ihren Verlobten verloren und will keinen anderen Mann mehr haben. Beide Töchter sind etwa in meinem Alter. Die ältere spricht recht gut Deutsch, wie ich erst später merkte. Die Familie gehört zu den typischen Vertretern der polnischen Oberschicht, deren Bildung deutliche Anlehnung an die französische Kultur zeigt. Typisch polnisch ist auch ihr Chauvinismus, denn aus ihrem Hass gegen uns machen sie keinen Hehl. Wenn ich den beiden Mädchen mal auf der Straße begegnete, danken sie kaum merklich für meinen Gruß und suchen mich möglichst zu übersehen.

Es ist den deutschen Soldaten verboten, Kontakte zu der polnischen Bevölkerung zu unterhalten. Das ist nichts Ungewöhnliches. Das verbieten alle Besatzungsmächte ihren Soldaten in fremden, feind¬lichen Ländern. Sie haben triftige Gründe dafür. Die Berührung mit der Zivilbevölkerung schafft mensch¬liche Beziehungen, die wenigstens für die Dauer des Krieges unerwünscht sind. Der Spionage und allen möglichen Krankheiten wird Vorschub geleistet. Das sind Dinge, die die Schlagkraft der Truppe schwächen. Andererseits war es auch der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern oft pein¬lich, wenn sie in der Öffentlichkeit von deutschen Soldaten begleitet oder gegrüßt wurden. Sie wollten als gute Patrioten mit den Besatzungssoldaten nichts zu tun haben oder sie fürchteten die Diskriminie¬rung durch ihre Mitbürger oder gar deren Rache. Im Kreis der Familie waren sie meist wesentlich zu¬gänglicher. Diese Erfahrung haben wir in allen Ländern gemacht. Diese beiden polnischen Mädchen in der Piotra Skargi haben mich aber auch innerhalb des Hauses ignoriert!

Es ist sicher, dass ein großer Teil der polnischen Bevölkerung uns hasst. Man kann von einem anstän¬digen Volk nicht erwarten, dass es seine Besieger oder die Besatzungstruppen mit Liebe umfängt. Im¬merhin hat sich die Masse der Bevölkerung in der Öffentlichkeit wenigstens neutral verhalten. Ich ha¬be niemals irgendwelche Anfeindungen oder Hassausbrüche erlebt. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Terrorgruppen vor allem in den Großstädten sehr aktiv waren und so manchen deut¬schen Soldaten umgebracht haben.

Heute hatte ich das erste unfreiwillige „Gespräch“ mit der jungen Frau Pollak (der verheirateten Toch¬ter). Ich brauchte Rasierwasser und ging nach unten, um es mir aus der Küche der Lehrersfrau zu ho¬len. Dabei irrte ich mich in der Tür und geriet in die Küche der Familie Kaczkowski, wo ich plötzlich der jungen Frau gegenüberstehe. Ich bitte sie auf Polnisch um warmes Wasser. Da ich ihre Antwort aber nicht verstehe, gehe ich an den Kran, um mir das Wasser selbst zu nehmen. Da höre ich hinter mir ein glockenhelles „to nie, to nie!“[5] und halte sofort inne. Sie gibt mir nun Wasser, und ich ziehe ab. Aber dieses singende „to nie, to nie!“ klingt mir noch lange in den Ohren.

Ich habe einen zweiten Putzer. Es ist ein Judenjunge, der – natürlich! – deutsch sprechen kann. Er erle¬digt alle Besorgungen für mich. Anfangs war das sehr bequem für mich, zumal ich kaum ein Wort pol¬nisch konnte. Seine anfängliche Bescheidenheit verwandelte sich aber mehr und mehr in eine so uner¬trägliche Unverschämtheit, dass ich ihn eines Tages hinausgeschmissen habe. An seiner Stelle kommt jetzt seine sehr artige kleine Schwester, die mir die Strümpfe stopft und sich auch sonst nützlich macht. Später schenkte ich ihrem Vater einen Zivilanzug, den ich mir aus dem Urlaub mitgebracht hat¬te, um „zuhause“ nicht immer in Uniform herumlaufen zu müssen. Er war mir zu eng geworden. Der Vater muss mir dafür sehr dankbar gewesen sein, denn als ich einmal mit einer starken Erkältung zu Bett lag, schickte er mir zwei Brötchen. Was das bedeutet, kann man erst ermessen, wenn man weiß, wie schlecht es den Juden ging. Im Übrigen waren für Kontakte mit Juden scharfe Strafen angedroht. Ich habe deshalb auch nur die beiden Kinder beschäftigt und nicht etwa ihre sehr hübsche, hellblonde, blauäugige, rotwangige Schwester. Sie war etwa 17 Jahre alt und wäre mir viel lieber gewesen.

Allmählich lebe ich mich ein. Ich lerne nach und nach einige polnische Leute kennen, kann mich in¬zwischen mit einem bescheidenen Wortschatz auf Polnisch verständigen, werde mit dem Städtchen vertraut und fühle mich recht wohl. Mein Zimmer verschönere ich durch eine Gardine aus gelbem Stoff und genieße die schöne Aussicht aus dem Fenster.

Die Division erwartet Ersatz.[6] Die Einheiten haben längst nicht ihre Sollstärke. Viele Soldaten sind in Urlaub, und die Anwesenden – alles „alte Leute“, d. h. altgediente Soldaten – machen nur den notwen¬digsten Dienst. Die MG-Züge und mein Granatwerfer-Zug[7] machen Gefechtsdienst in dem Hügelge¬lände am Rande der Stadt, und die Fahrer versehen ihren Stalldienst.

Wir Zugführer – Feldwebel Gartschock, Feldwebel Lehmann, Feldwebel Nadler und ich – haben ei¬gentlich nicht viel zu tun. Nur der Spieß, Fritz Schulz, führt in der Schreibstube einen fürchterlichen Papierkrieg. Ich selbst schlafe mich immer aus, frühstücke in Ruhe und gehe dann zum Stall, der nur zweihundert Meter von meinem Quartier entfernt in derselben Straße liegt. Hin und wieder lasse ich mir ein Pferd satteln und reite in die Gegend. Ich trabe die Feldwege entlang, überquere Wiesen und Weiden, reite durch die benachbarten Dörfer und sammle Beobachtungen über Land und Leute, Klima und Land¬schaft, Wirtschaft und Verkehr und was mich sonst noch geographisch interessiert.

Nicht immer geht es glatt. Als ich einmal auf einem großen starken Tier in leichtem Galopp eine Wie¬se überquere, erschrickt der Braune vor einem Entwässerungsgraben und bockt, so dass ich über den Hals des Tieres fliege, mich mit einem Salto in der Luft überschlage und wieder mit Füßen und Gesäß auf der Wiese lande. Erstaunlicherweise habe ich mir dabei nicht das Geringste getan und spürte nicht einmal den leisesten Schmerz.

In Zobniów kommt eine junge Frau jedesmal ans Fenster gelaufen, wenn ich die Dorfstraße entlangreite. Eines Tages spreche ich sie an und erfahre, dass sie eine ehemalige Deutsche ist, die vor dem Krieg einen Polen geheiratet und in Posen gelebt hat. Wegen dieser Heirat hat sie als abtrünnige Deut¬sche nichts Gutes von den deutschen Behörden zu erwarten. Beim Einmarsch der Deutschen ist sie von Posen hierher geflohen und lebt nun mit Mann und Mutter in recht ärmlichen Verhältnissen. Sie heißt Helene Magdiarsch. Als sie einmal auf meinem Zimmer war, habe ich ihr ein Butterbrot gege¬ben, das sie sofort aufaß. Da merkte ich erst, wie hungrig sie war. Ein andermal habe ich ihr einen Beutel mit Kohlen in ihr Haus gebracht. Auf solche Geschenke hat sie sicher gehofft, als sie mit mir anbändelte, wie es ja die deutschen „Fräuleins“ im Westen mit den amerikanischen Besatzungs¬solda¬ten auch gemacht haben.

Die Erdöl-Bohrtürme im Jasło/Lemberger Erdölfeld gehörten dem Konsortium Małopolska, im Krieg von der Karpathen Öl AG übernommen
Die Erdöl-Bohrtürme, die der Autor erwähnt, sind bedeutend genug, um auch in der Karte verzeichnet zu werden ("Jessel" war der eingedeutschte Name von Jasło)
Den Erdöl-Bohrtürmen wurde 1944 eine Briefmarke gewidmet, die nicht mehr zur Ausgabe gelangte

Bei einem dieser Ritte sah ich mir auch einmal einen (Erdöl-Bohrturm an. Die Aus¬läufer des Lemberger Erdölfeldes reichen bis hierher, und die Bohrtürme stehen hier in beträchtlicher Zahl auf Feldern und Wiesen und verschandeln das Landschaftsbild. Die Pumpen laufen Tag und Nacht und fördern mit schwerfälligem Schnaufen das dickflüssige, grünlichbraune Öl zutage. Es muss dann noch in mehreren Arbeitsgängen raffiniert werden. Seine Bestandteile sind in den einzelnen Ge¬bieten unterschiedlich, und so wird aus der einen Sorte Paraffin, aus der anderen Benzin usw. herge¬stellt.

Ab und zu muss ich auch Aufträge der Kompanie durchführen. Kürzlich musste ich Schlacke besor¬gen, mit der wir die Wege in einigen Kompaniebereichen trockenlegen wollten. Ich ritt zu einem An¬gestellten der Eisenbahn, dessen Häuschen am Stadtrand lag. Dort angekommen, band ich mein Pferd mit der Trense am Gartenzaun fest und betrat das Haus. Während ich mit dem Polen sprach, deutet er plötzlich mit dem Arm nach draußen. Ich blicke durch das Fenster und sehe gerade noch, wie mein Pferd mit dem Kopf am Zaun entlangfährt, das Zaumzeug abstreift und sich langsam entfernt. Ich bin wie der Blitz draußen, aber je näher ich dem Tier komme, umso schneller wird sein Schritt. Dann springe ich mit einem Satz heran und kriege gerade noch den Steigbügel zu fassen. Der Fuchs setzt sich in Trab und schleift mich am Boden mit. Glücklicherweise gerät er in eine hohe Schneewehe, in der er bis zum Bauch versinkt. Da bleibt er stehen. Nun packe ich seine Mähne und führe ihn heraus. Er geht auch ganz brav mit. Nun zäume ich ihn wieder auf und reite nach Hause. Das hätte ein scha¬denfrohes Gelächter gegeben, wenn ich zu Fuß zurückgekommen wäre!

Ein anderer Auftrag war wesentlich unangenehmer. Ich war mit mehreren Fahrzeugen losgeschickt worden, um in den umliegenden Dörfern Heu für unsere Pferde zu requirieren. Ich stehe in der Bau¬ernstube des polnischen Starosten (Bürgermeister), der mir resigniert die Gehöfte bezeichnet, auf denen ich noch Heu bekommen kann. Wir sind wohl nicht die ersten, die requirieren, und es ist nicht mehr viel da. Die hellblonde Tochter des Starosten geht mit kalter Verachtung an mir vorbei und streift mich mit einem feindseligen Blick. An der Wand hängen Ikonen und ein Kruzifix. ‚Herrgott, welch ein Wahnsinn‘, muss ich denken, ‚beide sind wir Glieder derselben katholischen Kirche, Glau¬bensbrüder, und müssen uns so weh tun!‘. Aber ich kann es ihm nicht sagen. Der Starost tut mir leid, und als ich dann zusehe, wie unsere Fahrer das Heu auf den Fahrzeugen zu Bergen stapeln, stoppe ich das Verladen vorzeitig und ziehe ab.

Was mich tröstet, ist die Tatsache, dass wir andererseits auch wieder Gutes tun. Wir verleihen täglich eine Anzahl unserer Gespanne an polnische Bauern, die sie zum Pflügen oder zu anderen Arbeiten ge¬brauchen. Auch dem polnischen Kloster stellen wir Gespanne, und ich habe mich sehr über die nette Art gefreut, mit der Fritz Schulz sie den Schwestern übergeben hat. Die Interessenten holen sich die Gespanne mit dem dazugehörigen Fahrer selbst ab. Es war zweckmäßig, dass immer dieselben Fahrer zur gleichen Arbeitsstelle gingen. Dennoch gab es großes Gelächter, als ein Mädchen mit unüber¬hör¬barem Interesse ihren „Paul“ wieder anforderte. Die Leute versammeln sich nämlich morgens vor dem Stall, und Fritz veranstaltet dann immer mit viel Humor eine Art Versteigerung.

Seit ich bei der 8./477 in Jasło bin, führe ich einen MG-Zug, der sein Quartier am entgegengesetzten Ende der Stadt hat. Der Dienst umfasst die üblichen Ausbildungszweige: Formalausbildung, Ausbil¬dung an der Waffe, Schießen und Geländedienst. Dazu Übungsmärsche in bestimmten Zeitabschnit¬ten. Da ich sonst keinerlei Zerstreuung habe, bleibe ich gewöhnlich bis zum Dienstschluss um 17 Uhr bei meinem Zug. Ich sitze also auch noch während des Waffenreinigens und der Putz- und Flickstunde bei den Männern. Als ich mir dann einmal während der Putz- und Flickstunde von einem meiner Män¬ner die Haare schneiden ließ, deutete mir der Friseur sehr diskret und geschickt an, dass die Aufsicht über die beiden letzten Dienststunden den Gruppenführern zukäme und dass die Zugführer der anderen Züge niemals bis zum Dienstschluss dabei seien. Mir wurde klar, dass die Männer keineswegs darüber entzückt sind, wenn der Feldwebel ihnen bis zum Dienstschluss auf die Finger guckt. Sie wollen ja schließlich auch mal eine halbe Stunde früher Schluss machen! Ab sofort ließ ich mich in den beiden letzten Dienststunden nicht mehr sehen, zumal ich jetzt auch angenehmere Abwechslung in meinem Quartier fand.

Später, als die Rekruten eingetroffen waren, übernehme ich den schweren Granatwerfer[8]-Zug. Die Männer sind in einer von uns neu errichteten Baracke im Stadtzentrum untergebracht.

An den Sonntagen, die immer dienstfrei sind, verlasse ich das Haus erst gegen Mittag, um ins Kasino essen zu gehen. Im Winter muss ich dann mit meinen blitzblanken Stiefeln durch den Schnee, und im Frühjahr steige ich vorsichtig durch die Pfützen und über die schlammige Straße, die hier am Stadt¬rand nicht gepflastert ist.

Von Zeit zu Zeit ist sonntags Kirchgang. Das ist Dienst. Die Kompanie marschiert im Dienstanzug mit Stahlhelm zur Kirche, vorn die Evangelischen, am Schluss die von mir geführten Katholiken. An einer Straßenecke schwenke ich dann mit meinem Zug ab und marschiere zur katholischen Kirche, vor der wir warten, bis der polnische Gottesdienst beendet ist.

Jeden Samstag geht die Kompanie baden. Wir benutzen dazu das ehemalige Judenbad, dass durch eine Brauseanlage für unsere Zwecke hergerichtet ist. Ich gehe immer etwas später und bade dann mit den anderen Feldwebeln zusammen oder auch ganz allein. Als Bademeister ist ein älterer rothaariger Jude tätig.

Die Synagoge von Jasło[9]

Der Weg zum Bad führt an der Ruine der Synagoge vorbei, die als stummer Zeuge unserer Schande und Torheit dasteht. Man brennt keine Kirchen nieder, ganz gleich, welcher Religion sie dienen. Das ist Barbarei und außerdem eine bodenlose politische Dummheit. Wohl haben wir hier auch manche Ver¬besserungen geschaffen. Wir haben die Hauptstraße mit ihrem Katzenkopfpflaster zu einer erst¬klas¬sigen Asphaltstraße umgebaut. Auch der Marktplatz, der sich bei Regenwetter regelmäßig in eine Schlammpfütze verwandelte, bekam zunächst eine Kiesdecke und wurde später mit Fliesen belegt. Aber das sind technische Verbesserungen, die zwar zu materiellen Kultur gehören, die aber nicht aus¬reichen, um einen Hegemonieanspruch zu begründen, wenn nicht eine Kulturarbeit mit geistigen Wer¬ten hinzukommt. Wir haben zweifellos solche Werte zu bieten. Sie wirken allerdings langsamer und weniger sichtbar. Vorerst haben wir eine Kirche zerstört und dafür eine Asphaltstraße gebaut. Das ist ein erschreckender Aspekt. Man kann nur hoffen, dass er keine symptomatische Bedeutung hat. Aber die Armee ist nicht verantwortlich für diese Entwicklung.

Ich besuche mit noch zwei Feldwebeln das Gefängnis, in dem die SS oder Gestapo eine Abteilung für gefangene Juden unterhält. Wir klettern auf den Wachturm, um von dort aus die Gymnastikstunde der Gefangenen auf dem Gefängnishof zu beobachten. Vorher inspizieren wir das Gewehr des polnischen Zivilisten, der hier Wache steht. Wir lachen lauthals, als wir feststellen, dass das Gewehr ungeladen und der Lauf völlig verrostet ist. Dann beginnt die Gefangenengymnastik. Der Vorturner ist ebenfalls Jude. Er lässt einige Bodenübungen machen und boxt dann eine kurze Runde gegen einen Mitgefan¬ge¬nen, wobei er diesem einen harten Schlag ins Gesicht versetzt. Zum Schluss muss ein anderer Gefan¬ge¬ner vor dem aufsichtführenden SS- oder Gestapomann stramm stehen und laut ausrufen: „Ich bin ein Jude und ein dreckiges Schwein!“ Dann verschwinden die Gefangenen im Gebäude.

Die galizischen Städte wimmeln von Juden. Der jüdische Anteil an der Stadtbevölkerung liegt dem Ver¬nehmen nach bei 40 bis 60 %. Auch Jasło macht hier keine Ausnahme. Die alten Juden tragen alle einen langen Bart, den knöchellangen Kaftan und das runde Käppi. Auch in der Nähe unserer Schreib¬stube stehen mehrere Häuser, die von Juden bewohnt sind. Hier wohnen übrigens auch die Eltern mei¬nes früheren „Putzers“. Die Häuschen stehen dicht am Bürgersteig. Als ich einmal vorbei ging, saß an einem der niedrigen Fenster ein Mädchen. Im Vorübergehen, eine Sekunde lang, fiel mein Blick auf ihr Gesicht, eigentlich auf ihren Mund. Das Mädchen war bildschön, aber dieser Mund war hinrei¬ßend, von klassisch schöner Form und bezaubernder Anmut. Ich musste unwillkürlich an die Gottes¬mut¬ter denken, und ich kann mir leicht vorstellen, von welch vollendeter Schönheit sie gewesen ist.


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  1. kurz: 8./I.R. 477 oder 8./477
  2. Der Hauptfeldwebel, umgangssprachlich Spieß oder Mutter der Kompanie genannt, leitete als ranghöchster Unteroffizier den Innendienst seiner Einheit. Bei der Bundeswehr ist „Hauptfeldwebel“ hingegen ein Dienstgrad, während der Innendienstleiter „Kompaniefeldwebel“ heißt.
  3. offenbar die Familie von Adolph Kaczkowski, der aber nicht zwei, sondern drei Töchter gehabt haben soll, ohne dass von Söhnen die Rede ist. Der weiter oben genannte Hausbesitzer und Lehrer könnte ein Kollege von dessen Bruder, dem Lehrer Gustav Kaczkowski gewesen sein.
  4. Er war im Untergrund oder bereits nach Lemberg geflohen. Er starb nach dem Krieg in XXXXXXXXXXXXXX
  5. [Tun Sie] das nicht!
  6. Das war wohl im September 1940, als die Division nach erheblichen Abgaben mit neuen Rekruten aufgefüllt wurde. (Benary S.22)
  7. Gliederung der MG-Kompanie siehe unter Gliederung der 257. Infanterie-Division
  8. Granatwerfer (Bilder: 8-cm-Gr.W. 34, 12-cm-Gr.W. 42) werden heute als Mörser bezeichnet.
  9. History of the Jews of Jaslo mit freundlicher Genehmigung