28. Januar 1942
••• S. 63: Ganzer Artikel ist zweiter Teil von Ausschnitt "C", ursprünglich mitten im 7.2.42! •••Die sechs Kilometer breite Ebene zwischen Rai Gorodok und Nikolajewka ist eine unbewachte, offene Lücke in unserer Front. Dass der Gegner dies auszunutzen versucht, ist allen Führungsstellen klar. Eines Tages glaube ich den Beweis dafür zu haben, dass mein Kurierweg von russischen Meldegängern benutzt wird. Als ich nämlich wieder einmal in gemütlichem Trab mit dem Schlitten nach Rai Gorodok fuhr, tauchte ein Hund auf. Er kam aus Richtung Slawjansk und lief zügig und zielstrebig dem Waldrand – den russischen Stellungen – zu. Er wollte einige hundert Meter vor uns den Weg überqueren. Ich ließ die Pferde angaloppieren, um ihm den Weg abzuschneiden. Als der Hund das merkte, bog er ab und versuchte, unseren Schlitten in großem Bogen von hinten zu umgehen, wobei er seine Geschwindigkeit erhöhte. Das war verdächtig. Ich ließ den Schlitten wenden und fuhr zurück. Aber der Köter war schneller und sauste knapp hundert Meter vor uns über den Weg – Richtung russische Front! Ich riss meine MPi von der Schulter und feuerte ihm einige Garben hinterher, ohne zu treffen. In Rai Gorodok meldete ich dann meine Beobachtung. Später sollen – ich habe es nur vom Hörensagen – alle Hunde in Rai Gorodok erschossen worden sein.
Jedenfalls soll die Ebene von jetzt ab besser überwacht werden. Ich erhalte den Auftrag, mit einem Pendelspähtrupp während der Nacht diese Lücke zu beobachten und zu sichern, soweit das möglich ist. Man stellt mir sechs Mann (aus Mannschaftsmangel nur Fahrer und ältere Jahrgänge), und mit diesen breche ich bei Einbruch der Dunkelheit auf.[1] Der Weg ist durch den 10-tägigen Schneesturm verweht, aber wir können uns an den Telegrafenmasten entlang tasten. Später verlasse ich die Straße, um direkt auf das Dorf zuzusteuern. Zwar hat der jagende Sturm auf dieser Ebene weite Flächen abgefegt, aber der Schnee liegt immer noch so hoch, dass wir mühsam hindurchstapfen müssen.
Ganz plötzlich fängt es wieder an zu schneien und zu stürmen. Bald müssen wir uns gegen heftiges Schneetreiben vorwärts arbeiten. Ich treibe zur Eile an, denn wenn wir jetzt die Orientierung verlieren, wird es gefährlich. Der eiskalte Wind peitscht mir den Schnee ins Gesicht. Die ersten Flocken schmelzen noch durch die Körperwärme, aber der schneidende Wind lässt sie wieder gefrieren. Sie verkleben meine Augen. Der Schnee sickert allmählich in die Stiefel und beginnt, die Strümpfe zu durchnässen.
Wir kämpfen uns weiter auf das Dorf zu. Meiner Schätzung nach müssten wir schon so nahe sein, dass man unter Umständen etwas hören könnte. Ich lasse halten und lausche. Es ist hoffnungslos. Der heulende Wind erstickt jeden Laut, und der wirbelnde Schnee verdeckt jede Sicht. Aber es kann nicht mehr weit sein.
Plötzlich stutze ich und bleibe stehen: Vor mir ragt ein sowjetisches Bajonett und ein erstarrter Arm aus dem Schnee. Wahrscheinlich hat sich ein russischer Spähtrupp zu nah an den Ortsrand gewagt und ist ins deutsche Abwehrfeuer geraten. Wir gehen weiter. Da liegt schon wieder ein russischer Brotbeutel, ein Koppel und eine Pelzmütze. Jetzt werde ich doch unsicher. Ich blicke im Kreis herum. Habe ich denn die Richtung verloren? Es ist beinahe nicht möglich. Ich bin den Weg oft genug gegangen. Also weiter. Durch ein Loch in dem Schneewirbel erkenne ich für Sekunden den Schatten der kleinen Brücke und des Bunkers, der erst kürzlich zur Sicherung der Brücke gebaut und mit zwölf Mann besetzt worden war. Sonderbar, dass uns bei unserer Annäherung kein Posten anruft. Es bleibt verdächtig still. Ich rufe und lausche – Stille. Wir gehen vorsichtig an den Bunker heran. Er ist leer! und zerstört! Ich sehe mit einem Blick, dass hier gekämpft worden ist. Aber warum weiß ich nichts davon? Ist das Bataillon in Nikolajewka davon nicht unterrichtet worden? Oder haben diese wiederum vergessen, es mit mitzuteilen, bevor ich losging? Jedenfalls war ein Angriff auf das Dorf erfolgt. War er gelungen? Sitzt etwa der Iwan im Dorf? Auf alle Fälle ••• S. 64 •••ist jetzt höchste Vorsicht geboten. Trotzdem muss ich versuchen, die Lage aufzuklären. Ich lasse die sechs Mann als Sicherung mit schussbereitem Gewehr an der Brücke in Stellung gehen, während ich selbst über die Brücke auf die ersten Häuser zugehe. Fünfzig Meter vor dem ersten Haus bleibe ich nochmal stehen, da kracht ein Schuss. Ich brülle durch den Sturm: „Nicht schießen!“ Aber ich bin nicht sicher, ob mich bei diesem Sturm überhaupt jemand hört. Gleichzeitig geht mir die Frage durch den Kopf, warum der deutsche Posten überhaupt auf uns schießt. Die Posten müssen doch davon unterrichtet sein, dass ein eigener Spähtrupp im Gelände ist und heute nacht hier bei der Brücke ankommt. Das ist doch alte Ausbildungsregel. Ein deutscher Posten müsste das wissen. Also ist der Schütze ein Russe? Oder hat man auch hier versäumt, die Posten von meiner Ankunft zu unterrichten? Aber so viel Versäumnisse auf einmal gibt es ja gar nicht!
Jedenfalls wird auf uns geschossen, und ich habe keine Lust, fünfzig Meter vor den Linien als Zielscheibe zu stehen. Inzwischen hat der Schuss die Front alarmiert. Schon fallen weitere Schüsse von allen Seiten. Ich laufe über die Brücke zurück. Das Feuer steigert sich. Das erste MG setzt ein und jagt seine Garben über uns hinweg. Es ist ein deutsches MG, aber vielleicht haben es die Russen erbeutet. Wir hasten und stolpern durch den tiefen Schnee zurück. Zweihundert Meter ist der feuerspeiende Dorfrand entfernt. In einem wahren Kugelregen keuchen wir davon. Zischend und pfeifend, singend und surrend fliegen die Geschosse um uns herum oder klatschen mit dumpfem Puff in den Schnee. Wie gut, dass es Nacht ist. Dunkelheit und Schneetreiben legen einen schützenden Schleier zwischen uns und die knatternde Schützenlinie, von der wir uns immer weiter entfernen. Dann bleiben wir erschöpft und schwer atmend stehen. Niemand ist verletzt. Sie haben schlecht geschossen, die Kameraden vom eigenen Bataillon! Wir treten den Rückweg an.
Als ich dem Bataillonsführer in Nikolajewka Meldung mache, zeigt er sich sehr erstaunt. Ihm war von dem Angriff auf Rai Gorodok nichts bekannt. Da die telefonische Verbindung über die Nahtstelle umständlich ist, hat er seit Tagen keine genaue Kenntnis von der Lage beim Nachbarn. Und bei dem Schneesturm konnte ich natürlich auch nicht hinüber. Er lässt nun noch einmal die Verbindung zu meinem Regiment herstellen und erfährt, dass ein sowjetischer Angriff auf Rai Gorodok stattgefunden hat, dass der Ort aber in deutscher Hand ist.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ vom Wetter her wohl am am 28.01.1942; der Schneesturm hatte allerdings am 27. gerade erst begonnen.